Nach einem halben Jahr ist Notenbankchef Draghi offenbar wieder bereit, in die Märkte für Staatsanleihen einzugreifen. Das soll Italien und Spanien zahlungsfähig halten - und Zeit für echte Lösungen schaffen.
Brüssel. Den vermutlich berühmtesten Kommentar zur Macht der Anleihenmärkte hat James Carville formuliert, ein Berater des früheren US-Präsidenten Bill Clinton. Falls es die Wiedergeburt gebe, käme er gern als Anleihenmarkt zurück auf die Welt. Der könne nämlich jeden einschüchtern.
Von diesem Drohpotenzial der „bond markets“ können die Europäer seit Beginn der Schuldenkrise ein trauriges Lied singen. Da die Investoren immer weniger daran glauben, dass die Regierungen Spanien und Italien ihre Schulden voll begleichen können, lassen sie die Finger von deren Staatsanleihen. Darum sinkt ihr Wert, und ihre Verzinsung steigt, als Ausdruck des höheren Verlustrisikos. Müssen Rom und Madrid längerfristig mehr als sechs Prozent Zinsen für neue Schulden zahlen, sind sie irgendwann zahlungsunfähig.
So beißt sich die Katze in den Schwanz: Je höher der Argwohn der Geldgeber die Zinsen treibt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Prophezeiung vom Staatsbankrott der Mittelmeerländer sich erfüllt. Kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), will es versuchen.
Heute, Donnerstag, wird er voraussichtlich bekannt geben, dass die Bank nach rund einem halben Jahr wieder bereit dazu ist, gezielt in die Anleihenmärkte einzugreifen. Draghi wird verkünden, dass die EZB in unbestimmtem Ausmaß Staatspapiere auf den Märkten kauft – allerdings nur solche mit einer Höchstlaufzeit von drei Jahren, und nur unter der Bedingung, dass ein Land, dem die Bank auf diese Weise hilft, sich gleichzeitig einem strengen Spar- und Reformprogramm unterwirft, das unter anderem vom Internationalen Währungsfonds überwacht wird.
Weder Rom noch Madrid hat bisher offen um so einen Eingriff der EZB gebeten. Doch Draghis Plan hat einen psychologischen Zweck: Die Anleger sollen darauf vertrauen können, dass die Notenbank bereit ist, den Markt für kriselnde Staatsanleihen zu stabilisieren. Ganz bewusst wird Draghi verschweigen, wie viele und welche Anleihen die EZB zu kaufen gedenkt und ab welchem Zinssatz sie zu intervenieren plant. Das würde nur Spekulanten einladen.
Kaputte Geldpolitik
Wer allerdings glaubt, die EZB wolle die Staatsschulden von Italien und Spanien übernehmen, irrt. Denn erstens verbietet ihr das der EU-Vertrag. Sie wird bereits begebene Anleihen auf den Märkten kaufen – so, wie sie das von Mai 2010 und Februar 2012 im Ausmaß von rund 200 Milliarden Euro schon einmal gemacht hat. Und zweitens wird Draghi seine Intervention als Maßnahme begründen, die nötig ist, damit die Geldpolitik der EZB überhaupt funktioniert. Denn diese ist seit Beginn der Schuldenkrise, die vor mehr als vier Jahren als Kernschmelze der Finanzmärkte begonnen hat, schwer gestört. Die Banken trauen einander nicht, und sie geben auch den Unternehmen der Realwirtschaft zu wenig Kredite. Das ist rätselhaft, denn eigentlich bekommen die Banken billiges Geld nachgeworfen. Der Leitzinssatz liegt bei 0,75 Prozent. Und zu Jahresbeginn hat die EZB den Banken in zwei Tranchen rund eine Billion Euro für drei Jahre zum Zinssatz von einem Prozent zur Verfügung gestellt.
Böse Nebeneffekte im Norden
Doch die Kreditvergabe will nicht anspringen. Denn die Banken reduzieren ihre Kreditportfolios, um strenge neue Eigenkapitalvorschriften zu erfüllen. Und sie parken das frische Geld in sicheren Anlageformen, allen voran in den Staatsanleihen Deutschlands, Schwedens oder Österreichs. Darum bekommen diese Staaten derzeit sogar etwas gezahlt, wenn sie neue Staatsschulden begeben.
Das hat auch für Bürger Nordeuropas böse Nebeneffekte. So müssen niederländische Pensionisten zweistellige Rentenkürzungen schlucken. Denn ihr Pensionssystem ist fast gänzlich privatisiert. Die Pensionsfonds investieren vor allem in langfristige, risikoarme Wertpapiere – wie in jene Staatsanleihen, die nun winzige oder gar negative Verzinsungen abwerfen. „Wenn die Zinssätze in einigen Euroländern so hoch und in anderen so niedrig sind, funktioniert die Geldpolitik nicht“, bringt die Wirtschaftsforscherin Cinzia Alcidi vom Brüsseler Centre for European Policy Studies das Argument Mario Draghis auf den Punkt.
Kurzfristig dürfte dieser Plan funktionieren. Doch Alcidi warnt: „Die EZB kann diesen Job nicht allein machen.“ Draghi verschafft Europas Politikern eine Atempause. Ob sie diese für eine grundlegende Lösung der Schuldenkrise nutzen, bleibt abzuwarten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2012)