Draghi: "Europäisches Sozialstaatsmodell gibt es nicht mehr"

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Die Europäer könnten es sich nicht mehr leisten, „jeden dafür zu bezahlen, dass er nicht arbeite“, meint EZB-Chef Mario Draghi. Viele Ökonomen links der Mitte kritisieren die Sparmaßnahmen als zu hart.

Wien/Stef. In die heftige Debatte unter Ökonomen, ob Griechenland auf Druck der Troika „zu Tode gespart“ werde, schaltet sich nun auch Mario Draghi ein. „Es gibt keine Alternative zu einer fiskalischen Konsolidierung“, sagt der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) in einem Interview mit dem „Wall Street Journal“. Das gelte nicht nur für Griechenland. „Das ist tatsächlich eine Frage für ganz Europa“, fügt der Italiener hinzu.

Dabei soll man keineswegs bestreiten, dass harte Sparprogramme kurzfristig die Wirtschaft bremsen würden, erklärt Draghi. Allerdings, so der Notenbankchef, würde auf einen kurzfristigen Einbruch der Konjunktur ein „langfristiges, nachhaltiges Wachstum“ folgen, wenn „die Strukturreformen umgesetzt sind“.

Die Troika aus EZB, EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) segnete diese Woche das zweite Hilfspaket für Griechenland im Ausmaß von 130 Mrd. Euro ab. Außerdem sollen sich auch private Gläubiger mit einem Schuldenschnitt von mehr als 50 Prozent beteiligen. Die internationale Hilfe wurde unter der Bedingung umfassender Sparmaßnahmen für die Griechen beschlossen. So soll die Staatsverschuldung von derzeit mehr als 160 Prozent der Wirtschaftsleistung bis 2020 auf 120 Prozent des BIPs gedrückt werden.

Viele Ökonomen links der Mitte kritisieren die Sparmaßnahmen als zu hart. Laut einer aktuellen Prognose der EU-Kommission wird die griechische Konjunktur 2012 nicht zuletzt wegen der Konsolidierung um mehr als vier Prozent einbrechen. Man müsse vielmehr die Wirtschaft wiederbeleben anstatt ständig zu sparen, fordern manche Ökonomen deshalb.

Kritik am unflexiblen Arbeitsmarkt

Draghi hält dem entgegen, dass eine Belebung der griechischen Wirtschaft nur möglich sei, wenn zuvor eingehende Strukturreformen durchgeführt würden. Das betreffe vor allem den Arbeitsmarkt „für den geschützten Teil der Bevölkerung“. So seien die Verträge „höchst unflexibel und die Löhne folgen eher dem Alter als der Produktivität“. Das gelte nicht nur für Griechenland, wo Draghi ein niedrigeres Lohnniveau für unvermeidbar hält. Sondern für die meisten EU-Mitglieder. Spezifische Länder außer Griechenland nannte der EZB-Präsident nicht.

Auf die Frage der US-Journalisten, ob das Sozialstaatsmodell Europas angesichts der anstehenden Reformen künftig weniger stark wie bisher sein werde, antwortete Draghi: „Das europäische Sozialstaatsmodell gibt es nicht mehr.“ Die Zeiten, in denen die Europäer so reich gewesen seien, dass sie „es sich leisten konnten, jeden dafür zu bezahlen, dass er nicht arbeite“ seien vorbei.

Der Vorstoß des seit vier Monaten dienenden EZB-Präsidenten ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. So war bislang nicht eindeutig klar, ob Draghi in der Haushaltspolitik eher den „Falken“ zuzuordnen ist, die sich für umfassende Sparpakete aussprechen, oder den „Tauben“, die gern vor einer zu radikalen Konsolidierung warnen. Diese Unklarheit ist nun beseitigt, der Notenbankchef kann von nun an eher zur ersten Gruppe gezählt werden.

Ein Novum ist aber auch, dass sich einer der mächtigsten Notenbanker der Welt überhaupt so klar zu wirtschaftspolitischen Themen äußert. Einst galt die Regel, dass sich Politiker aus der Geldpolitik der Notenbanken heraushalten sollten und sich im Gegenzug Notenbanker mit wirtschaftspolitischen Empfehlungen eher zurückhalten. Seit dem Ausbruch der Eurokrise verfließen diese Grenzen zunehmend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2012)

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