Der Tucholsky-Schwindel

Im Internet kursiert ein Gedicht zur Finanzkrise, das angeblich Kurt Tucholsky im Jahr 1930 schrieb. Linke Kapitalismuskritiker bejubeln es. Es ist jedoch gefälscht.

wien. Angesichts der aktuellen Finanzkrise wird ja allerorten nach Parallelen zur Weltwirtschaftskrise von 1929 gesucht. Ein wahrer Renner auf E-Mail-Verteilerlisten und in Kommentarforen ist dabei ein Gedicht, das angeblich vom linksliberalen deutschen Schriftsteller und Journalisten Kurt Tucholsky im Jahr 1930 in der „Weltbühne“ veröffentlicht wurde. In dem Gedicht wird in lockerer Reimform die aktuelle Finanzkrise beschrieben – „Wenn die Börsenkurse fallen, regt sich Kummer fast bei allen, aber manche blühen auf: Ihr Rezept heißt Leerverkauf . . .“ Der Leser muss Tucholsky angesichts dieser Zeilen eine fast schon prophetische Gabe zugestehen.

Vor allem auf Internetseiten linksgerichteter Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker taucht das Gedicht häufig auf. In offiziellen Sitzungen deutscher Gewerkschafter soll es bereits verteilt worden sein. Und hierzulande sollen es Deutschlehrer bereits in ihren Unterricht eingebaut haben. Doch die ganze Sache hat einen Haken: Das Gedicht ist weder von Tucholsky noch aus dem Jahr 1930. Es stammt vielmehr aus dem September 2008 und aus der Feder des Österreichers Richard Kerschhofer.

Auf FPÖ-naher Seite publiziert

Kerschhofer hatte das Gedicht Ende September in dem konservativen Wochenmagazin „Preußische Allgemeine Zeitung“ sowie auf der Homepage der FPÖ-nahen „Genius-Gesellschaft“publiziert. Von dort wurde es unter anderem auf eine deutsche Homepage kopiert und dort neben ein Gedicht von Tucholsky gestellt. Ein Leser dieser Homepage nahm daher fälschlicherweise an, dass auch Kerschhofers Gedicht von Tucholsky stammt, und stellte es Mitte Oktober auf die Kommentarseite der deutschen Zeitung „Die Zeit“ (Der Weg des Gedichts: www.sudelblog.de). Dies dürfte der Anfang der rasanten Vermehrung im Internet gewesen sein. So fand Google Donnerstagmittag noch knapp 4000 Einträge bei der Suche nach dem ersten Satz des Gedichts. Wenige Stunden später waren es bereits über 10.000.

Offene Ohren fand das Gedicht vor allem bei linksgerichteten Kapitalismuskritikern. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass laut dem Gedicht das Finanzsystem aufgrund der „Spekulantenbrut“ eine Umverteilung nach oben bewirkt, für die der „kleine Mann zu blechen hat“. Der Urheber ist politisch jedoch eher auf der anderen Seite zu finden. „Ich bin sicher kein Linker. Und ich fand es zuerst unglaublich, dass diese es sofort für sich reklamiert haben“, sagt Kerschhofer im Gespräch mit der „Presse“. Für ihn sei es nun aber eine „Genugtuung“, dass sein Gedicht – wenn auch unter falscher Urheberschaft – so große Berühmtheit erlangt hat.

„Oft werden meine Gedichte ja nicht gedruckt, weil ich mich nicht an die Political Correctness halte“, meint der 69-jährige pensionierte Betriebswirt, der unter anderem für die eher rechtsgerichtete „Zeitbühne“ oder die „Wiener Zeitung“ Gastkommentare schreibt. Dass man sein Gedicht für ein Werk Tucholskys gehalten hatte, wundert ihn: „So wurde das Wort Derivat – das ich in meinem Gedicht verwende – damals ja noch nicht in diesem Zusammenhang verwendet. Man sieht, dass man nicht alles aus dem Internet glauben darf.“

Inzwischen hat sich aber auch im Internet herumgesprochen, dass nicht Tucholsky der Urheber des Gedichts ist. Und einige, die dem Text vorher zugestimmt haben, lehnen ihn nun plötzlich ab. Statt positiven Meinungen gibt es nun Kommentare wie: „Tucholsky würde sich im Grabe umdrehen.“ Kerschhofer sieht das Ganze dennoch amüsiert: „Ich habe es auf vielen kommunistischen Seiten gefunden. Dort ist es zum Teil nun wieder gelöscht worden, als man gemerkt hat, dass es nicht aus dem linken Eck kommt.“

Hier das Gedicht im Wortlaut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2008)


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