Wien um 1900: Über "Ziegelbehm" und "Maltaweiber"

Wien 1900 ueber Ziegelbehm
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Zum Bau der Wiener Ringstraße wurden vor allem Arbeiter aus Böhmen und Mähren benötigt. 15-Stunden-Arbeitstage waren Alltag.

Nach der Revolution im Jahr 1848 stand die Wiener Stadtmauer der Entwicklung der rasch wachsenden Stadt im Weg. Die Befestigungsanlage stellte ein Verkehrshindernis dar. Deshalb beschloss Kaiser Franz Joseph I. 1857 die "Auflassung der Umwallung und Fortifikationen der inneren Stadt, so wie der Gräben um diesselbe". Stattdessen sollte ein Boulevard mit Prachtbauten entstehen - der schließlich unter dem Namen Ringstraße bekannt wurde.

Um die kaiserlichen Bauprojekte zu realisieren, wurden allerdings massenhaft Arbeiter benötigt. Einquartiert wurden diese auf einem Areal, das heute Erholungsgebiet und beliebtes Ausflugsziel ist: Am Wienerberg. Ende des 19. Jahrhunderts war der Wienerberg allerdings Heimat der sogenannten "Ziegelbehm" - also jener Arbeiter aus Böhmen und Mähren, die als Ziegelschläger in den Wiener Ziegelwerken tätig waren.

Wien 1900 als zweitgrößte tschechische Stadt

Welch bedeutender Wirtschaftsfaktor der boomenden Stadt die Zuwanderer waren, zeigt auch, dass 1910 ein knappes Viertel aller "Wiener" aus Böhmen und Mähren stammte. Wien war um 1900 die zweitgrößte tschechische Stadt der Welt.

Die Arbeitsbedingungen waren hart und aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar. Der Sozialdemokrat Viktor Adler machte 1888 im Wochenblatt "Gleichheit" als erster auf die miserable Lage dieser Arbeiter aufmerksam, die in Baracken mit bis zu 70 Personen in einem Raum schlafen mussten - darunter Kinder. Die Arbeiter und Arbeiterinnen - darunter die sogenannten "Maltaweiber", also Mörtelmischerinnen - wurden nur in Blechmarken bezahlt, die sie ausschließlich in der überteuerten betriebseigenen Kantine einlösen konnten. 15-Stunden-Arbeitstage, siebenmal in der Woche, galten als normal. Kinderarbeit war weit verbreitet.

"Schlechtestbezahlte Menschen in Wien"

"Die Ziegelarbeiter waren die schlechtest bezahlten Menschen von Wien", schreibt Marie Toth in ihren Erinnerungen "Schwere Zeiten: Aus dem Leben einer Ziegelarbeiterin". In den Häusern für die Arbeiter habe es um die Jahrhundertwende keine Toiletten gegeben: "Man muss sich die vielen Arbeiter und Kinder vorstellen - und kein Klo! In einiger Entfernung von den Häusern wurden Löcher ausgehoben, darüber Pfosten gelegt, und da mussten sie ihre Notdurft verrichten".

"Einem Bericht aus dem Jahr 1907 zufolge musste ein 'Lehmscheiber' für 1000 Ziegel 32 Scheibtruhen führen, wobei er durchschnittlich 7 km zurücklegte - bei jeder Witterung", schreibt Michael Hans Salvesberger in Toths Buch zu den Arbeitsbedingungen. Am Schlagtisch schlugen Frauen Ziegel in eigene Formen - rund 7000 pro Woche. In diese wurde zuerst Sand gestreut, damit der Ziegel nicht haften blieb. Diese Arbeit machten die sogenannten "Sandler" - "Leute, die zu keiner anderen Arbeit zu gebrauchen waren", heißt es bei Salvesberger.

Rasante Assimilierung: "Nicht auffallen"

Das auffälligste Kennzeichen der Ziegelbehm war ihre rasante Assimilierung: "Die Wiener Böhmen brauchten Arbeit, und das hieß damals: Nicht auffallen und sich nicht tschechisch engagieren", ist in einer Ausgabe der Online-Zeitung der Universität Wien zu lesen. Bereits die erste Generation habe deutsch gelernt, die dritte habe schon gar kein tschechisch mehr gesprochen.

Die Tschechen waren unter den Wienern nicht immer gern gesehen. Antonin Hubka schreibt in einem Bericht 1901 tief erschüttert: "Die vulgärsten Witze und Lieder stehen auf der Tagesordnung. Die jungen Mädel, kaum der Schule entwachsen, (...) verfallen hier dem Verderben, die jungen tschechischen Gesellen lernen hier schlemmen und opfern den letzten Kreuzer für Alkohol und Tanz. Sonntags sind die Gasthäuser im Prater fast nur durch das tschechische Volk vollbesetzt, das sich aber so benimmt, dass man über seine Zukunft verzweifeln möchte" (zitiert nach Vlasta Valeš in seinem Beitrag im Buch "Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte").

Wienerberger AG

Das Unternehmen wurde 1819 von Alois Miesbach gegründet und 1857 von seinem Neffen Heinrich von Drasche-Wartinberg übernommen (nach ihm sind die Draschestraße und der Draschepark im 23. Bezirk benannt).

Die Wienerberger AG ist heute der weltweit größte Ziegelhersteller.

Ausweg Fußball

Auch Matthias Sindelar ("der Papierene"), herausragender Spieler des österreichischen Fußball-"Wunderteams", entstammte dem Milieu der Ziegelbehm. Er kam 1903 in Konzlau bei Iglau als Sohn eines Maurers und einer Wäscherin zur Welt. Die Familie bezog nach ihrer Übersiedlung nach Wien ein typisches Arbeiterquartier in der Quellenstraße 75 in Favoriten. Sindelar verbrachte wie andere "Gassenbuam" seine Jugend großteils auf Straßen und "Gstätten" - in "Fetzenleiberlpartien" lernte er die Kunst des Fußballs. Um die Arbeiterkinder von der Straße wegzubekommen, wurden sie in Horte und Tagesheimstätten gesteckt - oder in Fußballvereine.

Seit der Fußball Mitte des 19. Jahrhunderts aus England importiert worden war, war er ein Sport der Mittelschicht geblieben. In der Zwischenkriegszeit wurde er zu einem Sport des Proletariats. Fußball ermöglichte den sozialen und finanziellen Aufstieg.

Leerer Fleck auf Wienerberger-Homepage

Auf der Homepage der Wienerberger AG findet sich unter dem Punkt Firmengeschichte übrigens kein Eintrag zu den Ziegelbehm. Der nächste Eintrag nach "1869: Notierung an der Wiener Börse" ist "1918: Verlust der Werke in Kroatien, Ungarn und der Tschechoslowakei als Folge des 1. Weltkrieges".


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