Die Target-Falle: Der gefährliche Fehler im Euro-System

TargetFalle gefaehrliche Fehler EuroSystem
TargetFalle gefaehrliche Fehler EuroSystem(c) AP (Oliver Lang)
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Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn warnt vor den sogenannten Target-Krediten. Diese würden die offiziellen Rettungskredite in den Schatten stellen. Das sei alles nur ein Mythos, sagen Kritiker.

Heute bezeichnet es der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn als den Beginn einer "richtigen Detektivarbeit". Ende 2010 machte ihn der ehemalige deutsche Bundesbank-Chef Helmut Schlesinger auf mysteriöse Posten in der Statistik der Bundesbank aufmerksam: Dort tauchten Forderungen an andere Notenbanken in der Höhe von mehr als 300 Milliarden Euro auf. "Am Anfang hatte ich ja auch nur diese Zahl und wusste nicht so recht, was sie bedeutet", erinnerte er sich im Gespräch mit "Spiegel Online" daran. Zudem tat die Bundesbank die sogenannten Target-Salden als irrelevant ab. Bis heute muss sich der ifo-Chef manchmal wie Don Quijote, der verzweifelt gegen die Windmühlen kämpfte, fühlen. Denn seine Ergebnisse wurden und werden von vielen Notenbanken und Ökonomen heruntergespielt.

Doch wer Sinn kennt, weiß, dass er hartnäckig sein kann. Und deshalb hat er nun ein Buch mit dem griffigen Titel "Die Target-Falle" zu dem Thema geschrieben. Darin spricht er Klartext: Die Target-Kredite stellen die offiziellen Rettungskredite in den Schatten. Solange die Währungsunion erhalten bleibt, ist das kein Problem. Doch sobald ein Land austritt, oder die Eurozone überhaupt zerfällt, sieht das schon ganz anders aus.

Ein Fehler im System

Das Problem: Die Europäische Zentralbank hat 31 Milliarden Euro Eigenkapital. "Wenn der Euro zerbricht, werden sich Deutschland, Finnland, Österreich, Luxemburg und die Niederlande, die insgesamt etwa 1000 Milliarden Euro an Target-Forderungen haben, um diese 31 Milliarden Euro streiten", sagte Sinn im "Welt am Sonntag"-Interview anlässlich der Veröffentlichung des Buches.

Allein die Target-Forderungen der deutschen Bundesbank haben sich bis Juni 2012 auf 727 Milliarden Euro summiert. Rechtlich gibt es keine Möglichkeit, das Geld bei den anderen Ländern, die Verpflichtungen gegenüber der EZB haben, einzutreiben. Sinn spricht in diesem Zusammenhang von einem "Konstruktionsfehler". Da ist es auch wenig tröstlich, dass der Target-Kredit ursprünglich nicht beabsichtigt war. Denn das Target-System sollte nur dem "Clearing" - der Verrechnung der Finanzströme - dienen, ohne dass es zu einer Kreditgewährung kommt. Die Kredite sollten täglich glattgestellt werden.

Target wurde nach Finanzkrise zu Problem

Bis zur Finanzkrise waren die Target-Salden kein Thema. Dann versiegte allerdings der private Kapitalzufluss in den Krisenländern Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien. Die Folge: Seit Beginn 2007 stieg das Volumen der Refinanzierungskredite zur Eigenversorgung in den europäischen Krisenländern von 79 auf 866 Milliarden Euro im Mai 2012. Mit anderen Worten: Die Zentralbanken haben faktisch die Kapitalversorgung für die Geschäftsbanken übernommen. "Die Selbstbedienung mit der Notenpresse fand in einem Ausmaß statt, das atemberaubend ist", schreibt dazu Sinn. Strafen brauchten die Länder nicht zu befürchten, "denn was sie taten, war ja völlig legal". Schließlich hatten sie sich das Gelddrucken selbst im Zentralbankrat genehmigt.

Was ist Target?

Target ist der Name des 1999 ins Leben gerufenen Zahlungssystems der Euro-Zentralbanken, über das die internationalen Zahlungen zwischen Banken im Euroraum abgewickelt werden. Das Target-System transferiert und misst die grenzüberschreitenden Geldüberweisungen zwischen den nationalen Notenbanken der Euroländer.

Bei den Target-Salden handelt es sich um einen Überlauf an Zentralbankkrediten über jenes Maß hinaus, das der Geldversorgung im Inneren eines Landes dient. Dass es zu diesem Überlauf an Liquidität kam, ist das unmittelbare Ergebnis des gesunkenen Standards jener Papiere, die Banken bei den Zentralbanken für Refinanzierungskredite hinterlegen müssen.

Von der EZB gibt es bis heute keine zusammenfassende Statistik zu den Target-Salden. Diese werden aus den Bilanzen der nationalen Notenbanken und Daten des IWF berechnet.

Sinn warnt vor der Illusion, dass die Salden in Kürze von selbst verschwinden, weil die Krise wieder abklingen werde. "Solange die Niedrigzinskonkurrenz für den Interbankenmarkt durch die Notenpresse nicht abgestellt wird, werden die Salden immer weiter wachsen, es sei denn, sie werden durch andere Rettungskredite innerhalb und außerhalb der EZB ersetzt", schreibt der Ökonom. Er fasst das wahre Problem der Target-Salden folgendermaßen zusammen: "Das EZB-System gab den Krisenländern die goldene Kreditkarte mit einem unbegrenzten Überziehungskredit, und damit dieser Kredit nicht in Anspruch genommen und bereits bestehender vielleicht sogar zurückgezahlt wird, muss die Platin-Karte her. Die Möglichkeit, sich Güter und Vermögenswerte in Deutschland auf Pump zu besorgen, indem man einfach nur bei der Bundesbank anschreiben lässt, erzeugt eine verhängnisvolle Pfadabhängigkeit der Politik, die in jeder Krise zu neuen Konzessionen gegenüber den Krisenländern zwingt."

Warnung vor Banklizenz für ESM

Sinn warnt zudem vor einer Banklizenz für den ESM. Tatsächlich könnte sich dann auch der ESM die nötigen Mittel direkt über Refinanzierungskredite bei der EZB besorgen. Die Folge: "Für die Krisenländer entsteht nun kein Target-Saldo mehr, weil ja Geld vom ESM kommt, das für Käufe von Gütern und Wertobjekten sowie für die Schuldentilgung wieder an andere Länder abgegeben wird. Dafür hat nun der ESM selbst einen negativen Target-Saldo." Für die deutsche Bundesbank und Co. würde sich jedoch nichts ändern. Sie würden weiterhin Target-Forderungen aufbauen, die wohl ebenfalls beim Zerbrechen der Eurozone ihre rechtliche Grundlage verlieren würden.

Der ESM drohe demnach die Target-Maschinerie weiter auszudehnen und "immer mehr Ersparnisse der Deutschen in bloße Ausgleichsforderungen der Bundesbank gegen die EZB" zu verwandeln, die "im Falle des Zusammenbrechens des Euro verloren wären und auch so eigentlich nicht viel wert sind, weil sie keinerlei reale Zinsen bringen". Ließe man das zu, würde die Target-Falle endgültig zuschnappen.

Ausweg: Vorbild USA

Sinn will aber nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen aufzeigen. Er weist deshalb auf die Struktur des amerikanischen Geldsystems hin. Diese sei mit dem Eurosystem durchaus vergleichbar, schreibt der Ökonom. Gibt es in der Eurozone zwölf nationale Notenbanken, sind es im US-System 17 unabhängige Distrikt-Notenbanken ("Feds"). Die zentrale Fed sitzt in Washington, D.C. Im US-System konnten Salden aber nie entstehen, "weil die privaten Banken immer argwöhnisch darauf geschaut haben, dass im Zahlungsverkehr keine ungedeckten Kreditpositionen aufgebaut wurden".

Zwar ist es auch in den USA möglich, dass eine Distrikt-Notenbank mehr Geld druckt, als für die Geldzirkulation benötigt wird. "Anders als in Europa bleibt die Schuld in den USA aber nicht stehen und baut sich von Jahr zu Jahr weiter auf, sondern wird im April eines jeden Jahres getilgt", schreibt Sinn. Sein Fazit fällt nicht ganz ohne Häme aus: "Nur in Europa können sich die Einwohner einer Region das Geld nach Belieben aus der Notenpresse ziehen, um anderswo einzukaufen und dann zu einem Zins von derzeit 0,75 Prozent anschreiben lassen. In den USA kann man nicht anschreiben lassen. Dort muss man stattdessen echte, marktfähige Wertpapiere abtreten, die mit sechs Prozent verzinst sind". Mit anderen Worten: Man darf den Märkten nie die Möglichkeit nehmen, das eingesetzt Geld zu verlieren.

Deutschland auf verlorenem Posten?

Sinn ist überzeugt, dass die unbegrenzte Verfügbarkeit der Target-Kredite "der zentrale Konstruktionsfehler des Eurosystems" ist. Wenn man diesen nicht beseitige, werde das Eurosystem am Ende auseinanderbrechen. Er empfiehlt der EZB daher, die Politik der niedrigen Sicherheitsstandards für Refinanzierungskredite zu beenden: Tatsächlich haben die nationalen Zentralbanken seit Dezember 2011 die Möglichkeit, Forderungen auf die Rückzahlung normaler Unternehmenskredite als Sicherheiten zu akzeptieren.

Der Ökonom sieht Deutschland gefordert, obwohl er zugibt, dass "eine Lösung innerhalb des bestehenden EZB-Systems offenkundig nicht möglich ist", solange Länder, die von den Target-Salden profitieren, die Mehrheit im EZB-Rat haben. Er denkt deshalb noch weiter: Über den zeitweiligen Austritt von Ländern aus der Eurozone.

Griechen-Austritt kommt billiger

Sinn hat daher auch ausgerechnet, was ein Konkurs Griechenlands kosten würde. Sein Ergebnis: Ein Konkurs mit einem gleichzeitigen Austritt Griechenlands aus der Eurozone käme Deutschland günstiger (84,1 Mrd. Euro) als eine Griechen-Pleite, bei der Athen in der Eurozone bleibt (87,2 Mrd. Euro). Der Vorteil eines Austritts sei für die Gläubiger-Länder aber in Wahrheit noch viel größer, als es die Rechnung zum Ausdruck bringe.

Denn wenn Griechenland in der Eurozone bleibe, würden immer mehr Hilfskredite fließen, um den Konkurs zu verhindern und die fehlende Wettbewerbsfähigkeit des Landes auszugleichen. "Das verhindert die Verluste zunächst scheinbar, weil man sie noch nicht zeigen muss, doch in Wahrheit wachsen sie um die Hilfen mit jedem Jahr, das ins Land streicht", so Sinn. Er ist der Überzeugung, dass nur ein Austritt mit einer Abwertung Griechenland helfen könne. Und er könnte einen positiven Ansteckungseffekt haben: "Sollte sich nämlich zeigen, dass Griechenland durch einen Euroaustritt und eine Abwertung wieder zu neuem Wachstum zurückkehrt, wird das nicht ohne Wirkung auf die anderen Krisenländer bleiben", ist er überzeugt. "Sie werden dann auch aus dem Euro austreten wollen, um die Erfolge Griechenlands zu kopieren."

Alles nur ein Mythos?

Auf den ersten Blick ist "Die Target-Falle" ein lehrreiches Buch über die Schwächen des Eurosystems. Wer die 400 Seiten Target-Problematik absolviert hat, fragt sich aber auch zwangsläufig, warum außer Sinn niemand auf die Gefahren aufmerksam wurde. Namhafte Ökonomen wie Peter Burgold und Sebastian Voll sprechen im Zusammenhang mit Target sogar von einem "Mythos". "Die Salden sind keine echten Kredite und sollten nicht als solche betrachtet werden", schreiben die Beiden. Die Vorwürfe gegen das Zahlungssystem seien haltlos und würden auf unzutreffenden Argumenten beruhen.

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