Kanada, Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Kanada Land unbegrenzten Moeglichkeiten
Kanada Land unbegrenzten Moeglichkeiten(c) AP (DARRYL DYCK)
  • Drucken

Kanada ist für viele ein gelobtes Land. Und für viele erfüllt sich dort ein Traum. Geschenkt wird Einwanderern jedoch nichts. Immigranten berichten der "Presse am Sonntag" über ihr neues Leben.

Die Antwort von Jason Kenney auf die Frage, was Kanada zu bieten habe, kommt ohne Zögern: „Möglichkeiten und Wohlstand.“ Kenney ist Kanadas Einwanderungsminister, und er sagte dies vor Kurzem in Dublin. Es war eine bemerkenswerte Reise des Ministers. Er warb persönlich auf einer Messe für Kanada als Einwanderungsziel. Im krisengeschüttelten Irland sowie in anderen Ländern Europas blicken viele Menschen auf Kanada. Kenneys Anliegen bei der „Working Abroad Expo“ in Dublin: „Talente aus Irland“ zu ermutigen, sich für Arbeit in Kanada zu bewerben.

Weit entfernt von Dublin, an der Westküste Kanadas in British Columbia, werden in diesen Tagen rund 200 Bergarbeiter aus China erwartet, die in Kohlenminen arbeiten werden. „Wir sind gut im Tagebau, aber nicht sehr gut im Kohle-Untertagebau“, meint der Arbeitsminister der Provinz, Pat Bell. Die Gewerkschaften sehen das anders: Die Regierung und die Unternehmen hätten es verpasst, Kanadier für diese Jobs auszubilden. Kanada sei eine Bergbaunation, und nun Chinesen zu holen, weil es nicht genug Arbeitskräfte im Lande gebe, sei eine Beleidigung. Fakt ist, dass Kanada Einwanderung braucht. Das Conference Board of Canada hat ausgerechnet, dass das Land jährlich etwa 375.000 neue Immigranten benötige. Sie zu finden und zur Einwanderung zu bewegen, sei die erste Herausforderung, die zweite sei, sie dann auch entsprechend ihrer Qualifikation zu beschäftigen.

Markus Ritter kam vor elf Jahren nach St. Andrews in New Brunswick. Hier haben sich er und seine Frau eine Existenz aufgebaut. Ihr Hotel „Europa Inn“ beherbergt eines der besten Restaurants der Region. „Du kannst es hier schaffen, leicht ist es nicht“, sagt der in Lindau geborene Deutsche. Ob er es sich so erwartet habe? „Es war viel schwieriger als befürchtet.“ Der Koch, der in Münchner Sternerestaurants ausgebildet wurde, kam, „weil ich ein Buch über Kanada gelesen habe“. Es sei die Abenteuerlust gewesen. Die herbe Schönheit abseits der Ballungsgebiete liebt er mittlerweile. Was ihn von „echten“ Kanadiern unterscheide? „Ich darf nicht wählen, kann nicht Bürgermeister werden, sonst ist alles gleich.“

Kanada pflegt seinen Multikulturalismus. Waren es 150 Jahre lang die Europäer, die sich hier ansiedelten, so stellen nun die Asiaten das Gros der Neuankömmlinge. Allen voran die Chinesen. Wer in Vancouver das chinesische Tor, das die Pender Street überspannt, passiert, ist in einer anderen Welt. Vancouvers Chinatown zählt zu den größten Nordamerikas. In der West Pender Street ist das Büro von „Success“, was „Erfolg“ heißt, aber die Abkürzung für einen Verband ist, der Einwanderern das Einleben in Kanada erleichtern soll.

„Als ich kam, konnten viele Asiaten vom Staat angebotene Hilfen wegen sprachlicher Barrieren, aber auch wegen kultureller und sozialer Erwartungen nicht nutzen“, sagt Tung Chan, der frühere Präsident von „Success“, der 1974 aus Hongkong nach Kanada kam. Heute ist das anders. Auf dem Flughafen werden die Einwanderer von „Success“ begrüßt und erhalten Informationen über Sozialversicherung, Wohnungs- und Jobsuche. Staat, Provinz und Stadt finanzieren 80 Prozent des 30-Millionen-Dollar-Budgets. „Wenn ein neuer Kanadier vom Storch gebracht wird, hilft der Staat mit Familiengeld, Ausbildung und Bereitstellung des Gesundheitssystems“, sagt Chan lachend. „Wenn der neue Kanadier mit einer Boeing 747 gebracht wird, ist er bereits ausgebildet. Dann ist es doch sinnvoll, wenn Kanada in ihn investiert, damit er ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft wird.“ Fast 400 Millionen Kanadische Dollar gibt der Staat jährlich für Integration aus.

An der Ostküste von New Brunswick dominieren Öl- und Holzindustrie sowie Fischerei. Die Region um Saint John, der ältesten Stadt Kanadas, gilt auch als Reservat der Wohlhabenden. Villa an Villa reiht sich an der Joes Point Street in St. Andrews. Im Norden erstreckt sich der weitläufige Golfplatz. Im Süden, hinter den grünen Gärten, fällt die Küste steil ins Meer. Das schöne Leben wird von Immigranten wie Markus Ritter versüßt. Die Topgastronomie ist fest in europäischer Hand. Chris Aerni mit seinem Rossmount Inn kann seinen Schweizer Dialekt nicht verbergen. Im Luxushotel Kingsbrae Arms schwingt der 36-jährige Franzose Guillaume Delauné den Kochlöffel auf höchstem Niveau. „Ich wollte schon immer nach Amerika“, erzählt er. Doch nicht in New York, sondern in Montreal wurde er glücklich. Seit sechs Jahren lebt er dort. Im Sommer kocht er in der Provinz. Zwischendurch werkt er in einer Boulangerie. Delauné arbeitet dort, wo seine Expertise gefragt ist. „Wer hier ein geregeltes Leben sucht, ist fehl am Platz“, sagt er. Was hat er gefunden? „Anerkennung.“


Nicht alle finden Wohlstand. Im Jahr 2011 kamen 248.000 Einwanderer nach Kanada, weniger als ein Prozent der Bevölkerung des knapp 35 Millionen Menschen zählenden Landes. Michelle Parkouda vom Conference Board of Canada sagt: „Wir sehen Immigranten, denen es sehr gut geht, aber auch andere, die frustriert sind und ihre Fähigkeiten nicht so einsetzen können, wie sie gerne würden.“

In der Catherine Street in Ottawa befindet sich das „Newcomer Information Centre“. In einem Raum stehen Computer, an denen Einwanderer Anträge ausfüllen und ihre Bewerbungen schreiben können. Mitarbeiter des Zentrums helfen ihnen, in Sprachkursen unterzukommen, informieren darüber, wer bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche helfen kann, wie die geeignete Schule für Kinder gefunden wird, wer Rechtsberatung gibt. „Wenn wir Menschen aus anderen Ländern zu uns holen, dann sind wir auch verpflichtet, ihnen bei der Integration zu helfen“, sagt Tanya Mendes-Gagnon, eine der Direktorinnen des Zentrums. „Unser System ist relativ erfolgreich. Wir haben einige Dinge richtig gemacht“, meint Yves Poisson vom Public Policy Forum in Ottawa. „Einwanderung ist kein polarisierendes Thema wie in Europa.“ Adrienne Clarkson und Michaelle Jean kamen als Kinder von Einwanderern und Flüchtlingen aus Hongkong und Haiti – und wurden Generalgouverneurinnen und damit Statthalterinnen von Königin Elizabeth, die Staatsoberhaupt Kanadas ist.

Wiener Frisör als Winzer. Der Friseur Georg Heiß wanderte 1960 von Wien nach Edmonton aus, arbeitete dort zunächst in seinem Beruf, bevor er 1972 mit seiner Frau Trudy, deren Familie aus Rostock gekommen war, einen Weinberg im Okanagan-Tal in British Columbia kaufte und das Weingut Gray Monk gründete. Heute ist es der Vorzeigebetrieb der Weinbauregion. Und es gibt natürlich Frank Stronach, dessen Geschichte weithin bekannt ist. In der Industrie, bei Firmengründungen, in Wissenschaft und Forschung, vor allem aber als gut ausgebildete Handwerker hinterlassen Einwanderer ihre Spuren.

Aber Yves Poisson sieht auch die Probleme: „Heute haben es Immigranten schwerer.“ Die Volkszählung 2006 ergab, dass 28 Prozent der Immigranten mit Universitätsabschluss, die sich seit 2001 in Kanada niedergelassen hatten, in Berufen unter ihrer Qualifikation arbeiteten: als Lastwagenfahrer, Verkäufer, Taxifahrer. Bei Immigrantinnen waren es gar 44 Prozent.

Aus dem Taxifahrer Nassir Baki sprudelt es nur so heraus, wenn er auf seine Erfahrung angesprochen wird. In den 1980er-Jahren habe er in Austin in Texas studiert und im Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten als Bauingenieur gearbeitet. Aber in Kanada bekomme er keine Arbeit in seinem Beruf und seine Frau, die Lehrerin sei und drei Sprachen spreche, ebenfalls nicht. „Weil wir keine kanadische Arbeitserfahrung haben“, sagt der grauhaarige Mann mit der Brille. „Aber wie soll ich Erfahrung sammeln, wenn sie uns nicht in den Arbeitsmarkt lassen und uns nicht das Gefühl geben, dass wir ein Teil Kanadas sind?“

Mehr als die Hälfte der Immigranten arbeiten nicht in dem Beruf, den sie in ihrer Heimat ausgeübt haben. Vor neun Jahren errechnete das Conference Board, dass der Volkswirtschaft jährlich vier bis sechs Milliarden Dollar verloren gehen, weil Einwanderer nicht nach ihrer Qualifikation am Wirtschaftsleben teilhaben können.

Die Anerkennung als Einwanderer und damit der Status eines „permanent resident“ ist nur ein Schritt auf einem langen, oft von Enttäuschungen und Rückschlägen geprägten Weg in das gelobte Land. Für Einwanderer, die ein schnell arbeitendes Gesundheitswesen gewöhnt sind, kann die Konfrontation mit dem staatlichen, rein steuerfinanzierten Gesundheitssystem ein Schock sein. Wegen des dramatischen Ärztemangels ist es schwer, einen Hausarzt zu finden. Auf einen Termin beim Facharzt wartet man mitunter mehrere Monate, ebenso auf eine Operation.

Die Geschichte vom kanadischen Traum wird von den Siegern erzählt. Die anderen bleiben namenlos, wie jener deutsche Immigrant, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Kanada war meine große Hoffnung. Hier wirst du gebraucht, dachte ich“, schildert er. Er ist im Sommer 2008 mit seiner Frau ins Land gekommen, nach Alberta, die ölreiche, prosperierende Provinz Kanadas. In Deutschland hatte der damals 55-jährige Kfz-Mechaniker seinen Job verloren. In Alberta zogen der Ölboom und Milliardeninvestitionen in Ölsand und Bitumenaufbereitung die Menschen an. Nach wenigen Monaten kam die Ernüchterung. Er verlor auch hier seine Arbeitsstelle in einer Autowerkstatt. Mit dem Einlegen von Werbeblättern in Zeitungen hält sich das Ehepaar nun über Wasser.

Kanada

35Millionen Einwohner.
Das zweitgrößte Land der Erde ist nur in den Ballungszentren im Süden dicht besiedelt. Um den Wohlstand zu erhalten, braucht Kanada jährlich 375.000 Einwanderer. Aktuell kommen aber nur 250.000.

200verschiedene Ethnienleben in Kanada. Bis vor 30 Jahren kamen die meisten Immigranten aus Europa. Mittlerweile stellen die Asiaten das Gros der Einwanderer. Vancouver verfügt über eine der größten Chinatowns Nordamerikas.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.