Ökonom Ariely: „Jeder von uns ist ein kleiner Betrüger“

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Der US-Ökonom Dan Ariely untersucht, was Menschen zu Lügnern macht. Seine Experimente zeigen, warum wir öfter betrügen, wenn wir gefälschte Sonnenbrillen tragen – und dass die Zehn Gebote eine echte Lösung sind.

Die Presse: Herr Ariely, haben Sie heute schon gelogen?

Dan Ariely: Nein. Ich bin aber auch erst seit einer halben Stunde wach. Sie sind der erste Mensch, mit dem ich rede. Aber ich bin sicher, dass es heute noch dazu kommen wird.

Sie haben versucht, Lüge und Betrug über Experimente zu erforschen. Ihr Ergebnis: Fast jeder ist ein Betrüger. Warum greifen wir so oft zu, auch wenn es nur um ein paar Dollar geht?

Es stimmt, jeder von uns ist ein kleiner Betrüger. Um wie viel Geld es geht, ist nicht wichtig. Nach Kosten und Nutzen fragt bei Unehrlichkeit niemand. Entscheidend ist es, dass wir unser Handeln rechtfertigen können. Solange wir uns selbst weiter als gute Menschen sehen können, greifen wir zu.

Auffällig wird Korruption aber doch erst, wenn viel Geld verschwindet. Sind da besonders finstere Menschen am Werk, oder wäre jeder dazu fähig?

Die große Mehrheit würde es tun. Ich habe mit vielen Insiderhändlern, Dopingsündern und Steuerbetrügern gesprochen. Auch sie haben gedacht, dass sie nie dazu fähig wären. Aber dann gehen sie den ersten kleinen Schritt, rechtfertigen ihn vor sich selbst. Schon kommt der nächste und der nächste. Es ist einfach, den Zeigefinger zu heben und zu sagen: Das sind böse Menschen. Aber das ist nicht wahr.

Ist es also sinnlos, sich auf die großen schwarzen Schafe zu konzentrieren?

Es bringt nur teilweise Erfolg. Strafen sind zwar als Abschreckung wichtig. Aber die großen Fische nehmen deutlich weniger als die Summe der vielen kleinen Betrüger. Korruption passiert, wenn Menschen nur an Kosten und Nutzen denken. Das geht gut in dem System der Unehrlichkeit, das wir geschaffen haben. Jeder kann sich schlecht benehmen und dann vor sich selbst rechtfertigen. Es ist niemandem peinlich, korrupt zu sein.

Das liegt vielleicht daran, dass gute Vorbilder, etwa in der Politik, rar sind?

Für Politiker ist es leicht, Unwahrheiten zu rechtfertigen. Alles geschieht dann „für das Wohl von allen“. Im US-Wahlkampf haben beide Seiten enorm gelogen. Das ist kaum zu stoppen. Eigentlich müssten alle auf einmal damit aufhören.

Ihre Experimente haben gezeigt, dass es manche Umstände leichter machen zu betrügen. Sie gaben Menschen die Möglichkeit, eine Dose Cola oder ein paar Dollar zu stehlen. Beim Cola gab es weniger Gewissensbisse. Warum?

Je weiter unsere Handlungen von realem Geld weg sind, desto leichter können wir sie rationalisieren. Desto leichter können wir uns also eine Geschichte einreden, warum es in Ordnung ist, gerade jetzt ein wenig zu tricksen. Nur wenige Golfspieler würden einen Schlag nicht notieren, aber wenn sie den Ball „zufällig“ mit dem Fuß in das Loch bugsieren, sehen sie leichter darüber hinweg. Wir müssen zuerst uns anlügen, dann alle anderen.

Und warum betrügen wir eher, wenn wir gefälschte Sonnenbrillen tragen?

Da geht es um die Frage: Wie sehr beeinflusst, was wir von uns selbst denken, was wir als Nächstes tun? Es zeigt sich: Sobald man einen Schritt in die falsche Richtung gemacht hat, ist der nächste leichter. Wer begonnen hat zu betrügen, sieht alles von einer anderen Perspektive, denkt anders über sich selbst. Und dann kann es immer wieder passieren.

Wie lässt sich der Teufelskreis durchbrechen, etwa wenn man an illegale Downloads denkt? Es gibt eine Generation, deren Festplatten voll sind mit illegal kopierter Musik aus dem Netz.

Illegaler Download ist wie Korruption. Er ist allgegenwärtig, und niemand fühlt sich deshalb schlecht. Wenn man heute einen Jugendlichen fragt, was er sagen würde, wenn eine Zeitung ihn als illegalen Downloader bloßstellen würde, heißt es: Nichts könnte mich weniger stören. Es wird also verdammt hart, dieses Problem zu bekämpfen, weil es schon so tief verankert ist. Aber es gibt eine gute Nachricht: Menschen unterscheiden in ihrer Unehrlichkeit streng zwischen einzelnen Kategorien. Also nur weil viele Junge illegal Musik herunterladen, werfen sie nicht alle moralischen Vorstellungen über Bord.

Was würde denn helfen? In Ihren Experimenten haben Sie gezeigt, dass etwa die Zehn Gebote selbst Atheisten vom Betrug zurückschrecken lassen.

Die Erinnerung an einen moralischen Code ist wichtig. Das muss nicht immer und überall passieren, sondern in dem Moment, in dem man in Versuchung geführt wird. Da reicht es oft schon, wenn Menschen das Steuerformular auf der ersten Seite, also vor dem Ausfüllen, unterschreiben müssen, statt auf der letzten, wenn es zu spät ist.

Lügen wir heute mehr als früher?

Ja, Menschen lügen mehr als vor 50 Jahren. Aber das liegt nicht daran, dass sie schlechter geworden sind. Es gibt einfach viel mehr Technologien, die es uns erlauben, mit einer größeren Distanz zu betrügen. Und auch die Medien spielen hier eine Rolle: Betrügen ist salonfähiger geworden.

Aber Zeitungen schreiben ja nicht, dass Betrug und Korruption in Ordnung sind.

Das nicht. Aber sie schreiben, dass Joe es gemacht hat und Jim und Bob. Menschen, die ehrlich bleiben, kommen seltener vor.

Auch wir berichten intensiv über die großen Korruptionsfälle in Österreich. Schadet das mehr, als es nützt?

Berichte über Korruption lösen immer zwei Dinge bei den Lesern aus. Erstens, die Sorge erwischt zu werden. Zweitens, das Gefühl, dass es ganz normal ist, so zu handeln. Vieles deutet darauf hin, dass die zweite Kraft stärker ist.

Sie haben sich intensiv mit Lüge und Betrug beschäftigt. Was hat sich dadurch in Ihrem eigenen Leben verändert? Schwindeln Sie weniger?

Ich habe mir selbst viele neue Regeln auferlegt. Etwa bei der Steuererklärung. Es gibt so viele Grauzonen, in denen wir versucht sind, unehrlich zu sein. Die versuche ich zu eliminieren. Auch bei meinen Studenten bin ich viel strenger. Aber die Tatsache, dass ich die Unehrlichkeit verstehe, ist eine große Belastung für mich. Wenn mir mein Arzt oder Anwalt etwas vorschlägt, denke ich jetzt zuerst: Warum macht er das? Wie profitiert er? Was sind seine Hintergedanken? Dabei glaube ich gar nicht, dass sie schlechte Menschen sind.

Haben Sie Ihr Vertrauen in die Menschheit verloren?

Ich vertrauen niemandem mehr blind. Es ist schwer jemandem gegenüberzusitzen und zu wissen, dass er in seinen Meinungen voreingenommen ist und es vielleicht selbst nicht einmal weiß. Ich mache mir mehr Gedanken, hole immer zweite Meinungen ein. Das ist aufwendig, aber sehr wichtig.

Auf einen Blick

Dan Ariely (44) ist Psychologe und Betriebswirt. E-Mails beendet der Professor an der Duke University mit den Worten „Irrationally yours“ – und verrät damit sein akademisches Lebensthema: Warum handeln Menschen so oft irrational? Warum lügen wir, selbst wenn die Gefahr, entdeckt zu werden, groß und der Nutzen klein ist? Arielys neuestes Buch „Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge“ ist im Verlag Droemer erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.12.2012)

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