Ökonom: "Japans Probleme betreffen bald die ganze Welt"

Japanisches Kind
Japanisches Kind(c) EPA (GUS RUELAS)
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In Japan ist die Überalterung der Bevölkerung von allen Staaten am weitesten fortgeschritten. Der japanische Bevölkerungsökonom Naohiro Ogawa sieht als Gründe dafür die sich ändernden Werte in der Gesellschaft.

Herr Ogawa, auf den Philippinen feierte die Welt am 31. Oktober 2011 die Geburt des siebenmilliardsten Weltbewohners. Aus europäischer Perspektive sind die Philippinen nicht weit von Japan entfernt...

Naohiro Ogawa: Zwischen Japan und den Philippinen liegen aber Welten, was die Bevölkerungsstrukturen angeht. In den Philippinen bringen Frauen durchschnittlich 3,1 Kinder zur Welt, das Medianalter liegt dort bei 23 Jahren. Japaner sind im Schnitt fast doppelt so alt und die Frauen bekommen nur 1,39 Kinder. Im kommenden Jahr wird es also weniger Japaner auf der Welt geben, aber mehr Philippiner. Anderswo vermehrt man sich noch viel stärker, vor allem in Afrika. Niger hat eine Fertilitätsrate von 7,0. Es war also kein Zufall, dass das siebenmilliardste Kind nicht aus Japan kommt.

Der sogenannte Babyboom, den viele Länder nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten, hielt in Japan nur drei Jahre an, von 1946 bis 1949. Danach fiel die Geburtenzahl. Warum?

Die Fertilitätsrate eines Landes sinkt, sobald der Wohlstand steigt, wie wir es auch in Japan erlebt haben. Aber nach dem Babyboom halbierte sich unser Wert innerhalb von zehn Jahren. So eine extreme Abnahme hatte es vorher nirgends auf der Welt gegeben, und wir wissen bis heute nicht genau, warum. Ein Teil ist durch sich ändernde Werte in der Gesellschaft zu erklären. Den Menschen wurde es wichtiger, beruflich erfolgreich zu sein. Nach und nach traf das in Japan auch vermehrt auf Frauen zu. Außerdem stiegen die Kosten der Erziehung. Heutzutage müssen werdende Eltern insgesamt 13 Jahresgehälter sparen, um die gesamte Erziehungszeit bezahlen zu können. In Europa „kostet“ ein Kind nur neun bis zehn Jahre Einkommen.

Wenn die Kosten ein entscheidender Grund sind, könnte man diese nicht gezielt reduzieren? Ein flächendeckendes öffentliches Bildungssystem könnte etwa die Ausbildung billiger machen.

In Japan hat es viele Versuche gegeben. Ab den 1980er-Jahren begann man, das Problem der schrumpfenden Gesellschaft zu erkennen. Nachdem wir unseren Sozialstaat aufgebaut hatten, stiegen die Gesundheitskosten der immer älter werdenden Menschen an. Also versuchte man unter anderem, die Geburtenrate wieder zu erhöhen, um diese Kosten auch finanzieren zu können. Damit Frauen gleichzeitig nicht auf ihre Jobs verzichten müssten, wurden Kindertagesstätten gefördert. Aber es hat nichts geholfen. Ich glaube auch nicht, dass in einer leistungsorientierten Gesellschaft wie in Japan und anderen ostasiatischen Ländern ein günstigeres Ausbildungssystem helfen würde. Die Menschen würden nach neuen teuren Wegen suchen, damit ihr Kind noch besser abschneidet als die anderen. Wenn man nämlich erst einmal Kinder hat, gibt man auch viel Geld dafür aus.

Gibt es also keine wirksame Politikmaßnahme, die Geburtenraten anzuheben?

In Japan gelingt es jedenfalls nicht. Pro Familie müssten durchschnittlich 2,1 Kinder zur Welt kommen, damit die Bevölkerung nicht mehr schrumpft. Trotz all der Anstrengungen entfernen wir uns aber immer weiter davon. Seit 1997 verkleinert sich auch die Erwerbsbevölkerung. In Europa versucht man es auch mit Steuervorteilen für Ehepaare, Kindergeld und anderen Instrumenten. Trotzdem sinkt auch dort die Einwohnerzahl.

Dabei ist das Problem weniger die absolute Zahl als die Struktur. Weil die arbeitende Bevölkerung kleiner wird, können die Pensionen kaum bezahlt werden.

In Japan sind schon wir so weit, dass nur noch 57 Prozent der angestellt Beschäftigten in die nationale Pensionskassa einzahlen. Theoretisch müssten sich alle beteiligen, aber da man heutzutage weniger Geld rausbekommt, als man einzahlt, verweigern sich immer mehr Menschen. So fällt das japanische Pensionssystem in sich zusammen. Ähnliches steht anderen Ländern auch noch bevor.

Der ehemalige Spitzenbeamte Hidenori Sakanaka fordert deswegen, zehn Millionen Immigranten ins Land zu lassen. Er sagt, nur so könne vermieden werden, dass Japans Bevölkerung in 50 Jahren von heute 128 auf 90 Millionen schrumpft und 40 Prozent davon über 65 Jahre alt sein werden.

Theoretisch ist das ein guter Ansatz. In Japan stehen mittlerweile Schulen leer, Krankenhäuser suchen nach Arbeitskräften, und es fehlt an jungen Menschen, die konsumieren, arbeiten und dadurch ältere Generationen finanzieren. Aber ähnlich wie in einigen europäischen Ländern haben Einwanderer in Japan fast immer große Sprachprobleme, um hier Arbeit zu finden. Außerdem lässt sich eine Immigrationswelle nicht besonders gut gegenüber den Wählern verkaufen. Viele Leute befürchten soziale Reibungen, wenn zu viele Ausländer kämen.

Womöglich ändert sich die Bevölkerungsstruktur von Ländern generell viel zu schnell, als dass eine Regierung oder gar eine Gesellschaft mit den Entwicklungen Schritt halten könnte. Auf umgekehrte Weise erleben die ärmeren Länder ähnliche Probleme.

Richtig. In Afrika und Südostasien kommen die Regierungen mit dem Aufbau von Infrastruktur nicht hinterher, weil die Bevölkerung so schnell wächst. Durch den Druck, der dadurch auf Politik und Gesellschaft lastet, bestehen aber auch Chancen. Diejenigen Länder, die heute noch bevölkerungsmäßig wachsen, müssen schleunigst irgendeine Art von Sozialstaat aufbauen, damit sie ihre Menschen auch im Alter versorgen können. Viele Länder sind schon dabei, ihre Systeme zu überdenken. In China zeigen sich dagegen die Folgen der Versäumnisse. Die Bevölkerung altert auch dort rasant, und in den ländlichen Gegenden gibt es keine Altersabsicherung. Da sind politische Konflikte programmiert.

Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung und der dadurch auftretenden Probleme: Wie viele Menschen kann der Planet vertragen?

Das ist unmöglich zu beurteilen, weil sich die Kapazität der Welt ständig durch Ressourcenlage, technologischen Fortschritt und andere Entwicklungen ändert. Sicher ist aber, dass sich das Bevölkerungswachstum der Welt seit den 1960er-Jahren verlangsamt. Bis 2050 dürften wir deutlich über neun Milliarden Menschen sein. Sollte der Wohlstand aber gleichzeitig weltweit genügend zunehmen, wird überall nicht nur die Lebenserwartung steigen, sondern auch die Geburtenraten werden fallen. Und dann kommen die Probleme, die wir heute in Japan und Europa haben.

Steckbrief

Naohiro Ogawa
ist Professor für Demografie an der Nihon University of Economics.

Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit der Entwicklung der Bevölkerung in Japan und anderen asiatischen Ländern.

Zu seinen Spezialgebieten zählen die sozioökonomischen Auswirkungen von niedriger Geburtenrate und Überalterung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.12.2012)

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