Ein Haarschnitt für zwei Stück Kuchen – so lebte Argentinien ohne Geld

(c) REUTERS (ERIC GAILLARD)
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2002 erlebte die argentinische Bevölkerung, wie es ist, wenn die Banken verschlossen bleiben und danach das Geld seinen Wert verliert.

Buenos Aires. Und plötzlich war das Geld aus. Die argentinische Finanzkrise mit Staatsbankrott, Megaabwertung und Kontensperren kam an ihren kritischsten Punkt im April 2002, als alle Bankangestellten eine Woche lang in „Urlaub“ gehen mussten. Kein Bankomat in dem 40-Millionen-Land spuckte mehr Scheine aus. Die totale Kontensperre war die absolute Notbremse, gezogen von der Regierung, weil immer mehr Gerichte die Banken dazu verpflichtet hatten, Sparern ihre Einlagen auszubezahlen.

Aber der Reihe nach: Argentiniens Wirtschaft war seit der gigantischen Abwertung des Nachbarn Brasilien 1998 im Sinkflug. Ausländische Investoren, wie etwa die Deutsche Bank, zogen sich zurück, andere Industriefirmen verlegten ihre Produktion ins wesentlich günstigere Brasilien. Trotz ständig steigender Arbeitslosigkeit und sozialer Proteste wollte Argentiniens Regierung nicht die 1:1-Bindung des Peso an den Dollar opfern, die das Land aus der Hyperinflation gerettet hatte. Stattdessen machte die seit 1998 amtierende Führung unter Fernando de la Rúa immer mehr Schulden im Ausland, zu immer schlechteren Konditionen.

Im Oktober 2001 verweigerte der IWF weitere Kredite, daraufhin räumten viele Argentinier ihre Konten leer. Lastwagen voller Dollar fuhren nach Uruguay, das kleine Land mit dem großen Bankgeheimnis auf der anderen Seite des Río de la Plata. Allein am 30. November flossen so 1,5 Milliarden Dollar aus Argentiniens Finanzsystem ab.

Am 1. Dezember sperrte die Regierung die Privatkonten – maximal 250 Pesos pro Woche durften die Kontoinhaber noch abheben. Zu Weihnachten erklärte sich das Land außerstande, seine Schulden zu bedienen. Der Präsident, der diesen Bankrott erklärte, trat sieben Tage später zurück. Insgesamt fünf Präsidenten zählte Argentinien zwischen dem 20. Dezember 2001 und dem 3. Januar 2002.

Als sich Eduardo Duhalde schließlich die blau-weiß-blaue Amtsschärpe überstreifen ließ, übernahm er einen Staat in Auflösung. Auf den Straßen demonstrierten Arme und Arbeitslose, Aktionäre und Anleger. In dem Land, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein höheres Durchschnittseinkommen als Frankreich oder Deutschland gehabt hatte, rutschten 57 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze. Die Mittellosen wollten die Supermärkte ausräumen und der Mittelstand die Sparkonten. „Que se vayan todos!“ schrie es Politikern und Funktionären von den Straßen entgegen: „Sie sollen alle abhauen!“

Monatelang blieben die Konten gesperrt. 34.000 Sparer erwirkten vor den Gerichten dennoch den Zugriff auf ihr Geld. Im April 2002 kam es schließlich zu der Woche Zwangsferien für die Banken. In langen Schlangen standen die Menschen vor den Wechselstuben, um jeden verdienten Peso in Dollar zu tauschen, denn allen war klar, dass Duhaldes erste Abwertung um 40 Prozent nicht reichen werde. Zu Jahresende hatte der nunmehr frei floatende Peso drei Viertel seines Wertes verloren.

Provinzen druckten eigene Geldscheine

Weil durch die Bankensperre nicht genügend Geld im Umlauf war, kehrten viele Bürger zum Tauschhandel zurück. Auf Tauschmärkten gab es einen Haarschnitt für zwei Stück Kuchen und Englisch-Nachhilfe gegen die Reparatur der Wasserleitung. Manche Tauschmärkte gaben eigene Währungen aus. Auch viele Provinzen druckten Schuldscheine, um ihre öffentlichen Angestellten zu bezahlen. Insgesamt waren 17 verschiedene Parallelwährungen im Umlauf. Wer solche Papiere bekam, versuchte, sie so schnell wie möglich wieder auszugeben. So kurbelte das Geld, das keines war, tatsächlich den Konsum an.

Nach den „Bankferien“im April 2002 lockerte Duhaldes Regierung allmählich die Bankensperre für kleine Anleger, fror gleichzeitig aber Guthaben über 10.000 Pesos ein. Dieser „Corallón“ (großes Gatter) währte noch ein weiteres Jahr. 2,4 Millionen Haushalte ohne Einkommen bekamen 30 bis 70 Euro Nothilfe. Und dieses Geld floss voll in den Konsum, wie der damals verantwortliche Minister erklärt: „So haben wir den Kahn aus eigener Kraft wieder flottgemacht“, erinnert sich Roberto Lavagna im Gespräch mit der „Presse“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2013)

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