Reform: Briten bauen Sozialsystem radikal um

Reform Briten bauen Sozialsystem
Reform Briten bauen Sozialsystem(c) EPA (Andy Rain)
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Großbritannien verspricht sich durch Änderungen im Sozialwesen Einsparungen von rund zwei Milliarden Pfund jährlich. Viele Briten befürworten die Maßnahmen der Regierung.

London. „April ist der grausamste Monat“, schreibt T. S. Eliot in seinem Gedicht „The Waste Land“. Auf Großbritannien dürfte das jedenfalls zutreffen. Denn das Königreich hat radikale Änderungen und Kürzungen im britischen Sozialwesen beschlossen. Kritiker sehen den Staat bereits in Richtung eines „verödeten Landes“ gehen.

Während die Kirchen der konservativ-liberalen Regierung eine „systematische“ Politik gegen die Armen vorwerfen, weist Schatzkanzler George Osborne jede Kritik als „nicht zutreffenden Unsinn“ zurück und entgegnet: „Mit den Reformen brechen wir die Abhängigkeit von Beihilfen auf.“

Und dafür sind umfangreiche Maßnahmen geplant. Mit dem heutigen Montag wird in Großbritannien die Steigerung aller Sozialbeihilfen bis 2017 auf ein Prozent jährlich begrenzt (bei Beibehaltung der bisherigen Inflationsanpassung wären es aktuell 2,2 Prozent). Zudem wird die Behindertenbeihilfe durch eine erschwert zugängliche Unterstützung ersetzt. Ab Monatsmitte gilt dann (versuchsweise) eine Obergrenze, wonach die Summe der Sozialleistungen eines Empfängers nicht das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von 26.000 Pfund übersteigen darf.

Bereits eingeführt wurden zu Monatsbeginn Einschränkungen bei der Wohnbeihilfe sowie die Übertragung der Zuständigkeit für die Befreiung von der Gemeindeabgabe (council tax) auf lokaler Ebene. Ende April soll der erste Praxisversuch mit einer kombinierten Beihilfe, die bis zu sechs verschiedene Hilfen vereinigt, erfolgen. Der Fokus dabei ist nach Angaben eines Regierungssprechers: „Wir wollen sicherstellen, dass sich Arbeit lohnt.“

Dass die Schwächsten zur Kasse gebeten werden, während die Regierung zu Monatsbeginn den Spitzensteuersatz von 50 auf 45 Prozent senkte, spricht nicht gerade für politisches Geschick. Nach einer Studie des Institute for Fiscal Studies wird die Durchschnittsfamilie heuer um 891 Pfund (1050 Euro) weniger haben als 2010. Dagegen behauptet die Regierung, dass neun von zehn Familien durch die Reformen insgesamt um 300 Pfund im Jahr besser dastehen werden.

Staatliche Hilfen steigen weiter

Dennoch erhofft sich Schatzkanzler Osborne Einsparungen von rund zwei Milliarden Pfund im Jahr. Damit wird ein lang anhaltender Trend gestoppt, aber nicht umgekehrt: Von 1987 bis 2010 verdoppelten sich die Sozialausgaben inflationsbereinigt von 110,4 Mrd. Pfund auf 218,4 Mrd. Pfund. Das ist mehr als Großbritannien für Erziehung und Transport zusammen ausgibt. Trotz der Reform wird die Summe aller staatlichen Hilfen und Begünstigungen im Jahr 2016 allein wegen der schlechten Wirtschaftslage auf rund 221 Mrd. Pfund ansteigen, rechnet das unabhängige Office for Budget Responsibility vor.

Trotz aller Kritik der Opposition und der Impraktikabilität einzelner Maßnahmen (etwa der sogenannten „Schlafzimmersteuer“) wird die Reform von der Bevölkerung überraschend stark unterstützt. Nicht nur halten 64 Prozent der Briten ihren Wohlfahrtsstaat für überdimensioniert, ineffizient und unfinanzierbar. Auch das soziale Mitgefühl wird immer schwächer: 78 Prozent befürworten Kürzungen der Sozialleistungen bei Ablehnung eines Jobangebots und 84 verlangen eine Verschärfung der Bestimmungen zur Arbeitsunfähigkeit. Da mag etwas dran sein: Als das Arbeitsministerium den 2,6 Millionen Empfängern dieser Beihilfe eine Überprüfung ankündigte, erklärten 878.300 Bezieher den sofortigen Verzicht. Unter den Gründen für Arbeitsunfähigkeit fand sich etwa Akne. Die Regierung versucht diese Stimmung populistisch noch anzuheizen. So fragte Schatzkanzler Osborne vergangene Woche, warum jemand wie der wegen sechsfachen Kindesmordes verurteilte Mick Philpott „auf Staatskosten unterstützt“ werden solle.

Nicht zuletzt angesichts dieser Stimmungslage ist die Labour Party peinlich bemüht, jede Festlegung zu vermeiden. Staatssekretär Sajid Javid schrieb an Oppositionspolitiker Ed Balls einen Brief, um zu fragen, welche Änderungen an den Reformen seine Partei bei einer Rückkehr in die Regierung vornehmen würde. Auf eine Antwort wartet er vergeblich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2013)

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