Hypotheken: 30 Jahre Hokuspokus an der Wall Street

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Im Juni 1983 schufen New Yorker Investmentbanker das erste verbriefte Wertpapier aus Hypotheken. Diese Collateralized Mortgage Obligation ist Vorbild all jener Anlageformen, die zum Crash führten.

Am 30. September 1981 hatten Amerikas biedere Sparkassen ebenso Grund zum Jubeln wie die überdrehten Bondtrader an der Wall Street. An diesem Tag rettete der Kongress in Washington mit einem picksüßen und sündteuren Steuerzuckerl die amerikanischen Sparkassen – und schuf gleichzeitig und ungewollt den billionenschweren Markt für Hypothekenanleihen.

Nach der Freigabe des Leitzinses durch die Federal Reserve zwei Jahre zuvor waren die Zinssätze deutlich gestiegen. Die Sparkassen mussten folglich auf den Märkten höhere Zinsen für frisches Geld zahlen, als sie von ihren Kreditnehmern verlangen konnten. Die Finanzierung von Amerikas Bauboom wurde ein Verlustgeschäft. Tausende Sparkassen gingen bankrott.

Doch nun konnten sich die Sparkassen ihrer alten, verlustträchtigen Hypotheken auf dem Weg der Steuerabschreibung entledigen. Dazu mussten sie ihre alten Kreditportfolios verkaufen. Also verramschten verzweifelte Sparkassenvorstände alte Forderungen. Plötzlich gab es ein vom Staat künstlich beflügeltes Angebot an spottbilligen Hypotheken. Und damit auch eines von Hypothekenanleihen, also jenen Bündeln von Hypotheken, mit denen die Wall Street seit 1977 eher erfolglos Geld zu verdienen versuchte. Die Stunde von Lewis Ranieri und den fetten Männern von Solomon Brothers hatte geschlagen.


Fresswahn am Freitag. „Fett“ ist hier weder eine Übertreibung noch eine Beleidigung. Ranieris Team von fast ausschließlich italienischstämmigen, ständig mit Fäkalausdrücken um sich werfenden Mortgage-Bond-Tradern machte sich einen Sport daraus, so viel Essen in sich hineinzustopfen wie nur möglich. Jeder Freitag war „Food Frenzy Day“, frei übersetzt also der „Tag des irren Fressens“. „Wir bestellten um 400 Dollar mexikanisches Essen“, erinnerte sich ein Salomon-Trader in „Liar's Poker“, der Chronik dieser wilden Jahre der Wall Street, geschrieben vom Finanzjournalisten und früheren Salomon-Banker Michael Lewis. „Man kann eigentlich nicht um 400 Dollar mexikanisches Essen bestellen“, fuhr der Trader fort (zur Erinnerung: das waren Dollarpreise der frühen 1980er-Jahre). „Wir haben es aber versucht – mit 20-Liter-Kübeln Guacamole. Wenn Kunden anriefen, sagten wir: Sorry, wir sind gerade mitten im Fresswahn. Ich muss Sie später zurückrufen.“

Wenn sie dann zurückriefen, saßen die Salomon-Trader stets am längeren Ast. Stieß eine Sparkasse verzweifelt und billig Hypotheken ab, kaufte Salomon billig ein. Wollte eine andere ihre Portefeuilles verbreitern, drehten ihr die Investmentbanker überpreiste neue Hypothekenanleihen an, die sie zuvor anderswo gekauft hatten. „Hypothekenanleihen sind so billig, dass es in den Zähnen schmerzt“, warb Ranieri. Die Sparkassenvorstände glaubten ihm, der sich aus der Salomon-Poststelle hochgearbeitet hatte und stolz war, nur vier Anzüge zu besitzen (allesamt aus Polyester).

Ranieris Salomon-Trader, die sich stolz „Big Swinging Dicks“ nannten (zu Deutsch: große baumelnde Schwänze), dachten weiter. Im Juni 1983 schufen sie, zeitgleich mit den Konkurrenten von First Boston, die erste Collateralized Mortgage Obligation (kurz: CMO): das Muster für alle jene verschachtelten Wertpapiere, die 25 Jahre später die große Rezession auslösen sollten.

Eine CMO funktioniert so: Man legt zum Beispiel 300 Millionen Dollar an Hypothekaranleihen in einen Trust. Der Trust zahlt an seine Anleger Renditen, ein Zertifikat dokumentiert die jeweiligen Anteile. Allerdings sind nicht alle Zertifikate gleich. Denn die CMO wird in mehrere Tranchen aufgeschnitten; im konkreten Beispielfall also in drei Tranchen über jeweils 100 Millionen Dollar. Wer ein Zertifikat für die erste Tranche hat, bekommt seine Zinsen nur aus jenen Mitteln bezahlt, die durch vorzeitige Kreditrückzahlungen flossen. Sprich: Wann immer ein Gläubiger seinen Kredit vorzeitig tilgt, fließt das Geld an einen Zertifikatsinhaber der ersten Tranche. Erst wenn diese erste Tranche von 100 Millionen Dollar ausgeschöpft ist, fließen vorzeitige Tilgungen an die Anleger der zweiten und dritten Tranche.


Schnipseln und kleben. Einfach gesagt sorgte das dafür, dass ein Zertifikat der ersten Tranche eine sehr kurze Laufzeit hatte. Bis die Inhaber der anderen Tranchen ihre Investitionen zurückbekamen, dauerte es bis zu 30 Jahre. Genau das hatten die großen Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften bis 1983 gesucht: eine langfristige, fix verzinste Möglichkeit, in Hypotheken anzulegen.

Die smarten jungen Mathematiker und Physiker, die sich vom großen Reibach an die Wall Street hatten locken lassen, kamen auf immer neue Ideen. Sie bastelten CMOs, die zu einem Teil aus der Rückzahlung von Kreditzinsen aus Villenvierteln in Kalifornien stammten und zum anderen Teil aus Rückzahlungen des Nennwerts der Hypotheken aus Slums in Louisiana.

Der Effekt war erstaunlich. Von Juni 1983 bis Jänner 1988 verkaufte die Wall Street CMOs im Wert von 60 Milliarden Dollar. Und er schuf einen Präzedenzfall: Wenn man Hypotheken bündeln, zerschnipseln und neu zusammenkleben konnte, warum dann nicht auch Kreditkartenschulden, Autodarlehen oder Studentenkredite? Wer wem was genau schuldet und wie kreditwürdig er ist, wurde immer unwichtiger. Zumindest bis zum bösen Erwachen im Herbst 2008.

War das aber tatsächlich die Ursache für den großen Crash? Sebastian Mallaby vom Council on Foreign Relations in Washington rät im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“ zu einer differenzierten Sichtweise. „Oft ist der Zweck der Kompliziertheit von Finanzinstrumenten, dass ihre Käufer sie nicht verstehen. Und so kann man sie dazu verlocken, zu viel zu zahlen und zu hohe Risken einzugehen“, sagt Mallaby. „Aber Bankenkrisen können durch traditionelle Kreditvergabe ebenso entstehen wie durch komplizierte Finanzinstrumente.“ Er verweist auf einen oft übersehenen Nutzen von komplexen Verbriefungen: „Diese Papiere sind liquid, weil man sie einfach verkaufen kann. Geldgeber akzeptieren deshalb niedrigere Zinsen. So erhält die Gesellschaft billiger Kredit.“

Lewis Ranieri ist dieser Tage wieder sehr beschäftigt. Eine Gesprächsanfrage der „Presse am Sonntag“ wimmelte sein PR-Berater ab: „Er ist derzeit voll blockiert.“ Verständlich: Die Rezession hat hunderttausende Hypothekarschuldner in die Insolvenz getrieben. US-weit sind viele gute Immobilien billig zu kaufen. Ranieris neuer Investmentfonds sucht genau solche „Preisanomalien“, manchmal auch mit unlauteren Mitteln. Im März verdonnerte ihn die US-Wertpapierbehörde SEC zu 375.000 Dollar Geldbuße, weil er einen unbefugten Berater auf Investorenfang geschickt hatte. „Ich glaube an Gott, aber ich werde nie heilig gesprochen werden“, hatte Ranieri seinerzeit zum „Esquire“ gesagt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2013)

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