Argentinien: Das Ende der Fiesta

Argentinien Ende Fiesta
Argentinien Ende Fiesta(c) EPA (RAMIL SITDIKOV/HOST PHOTO AGENCY)
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Das Land war einst eine der fruchtbarsten Kornkammern der Welt. Jetzt leidet Argentinien unter einem massiven Nahrungsmittelmangel. Dies ist das Ergebnis einer bizarren Politik der Regierung Kirchner.

Man nehme: ein Kilo Mehl Typ 000, 25Gramm Salz, einen Esslöffel Margarine, einen Würfel Bierhefe und einen halben Liter Wasser. Dazu etwas Fett für das Backblech. Diese Liste mit den Zutaten für 24 Brötchen, Typ Milonguita, kommt nicht aus einem Kochbuch. Sie stammt von der Website des Verbraucherschutzamts der Republik Argentinien, einer Zweigstelle des Wirtschaftsministeriums. Mit Backrezepten antwortet die Regierung von Cristina Kirchner auf die Tatsache, dass Brot heute fast doppelt so teuer ist wie zu Jahresanfang. Seit 2006 ist der Brotpreis gar um 700 Prozent gestiegen – in einer der fruchtbarsten Kornkammern der Welt.

Zum „einfachen Brot“ zu umgerechnet 2,65 Euro pro Kilogramm zählen die langen Flautas, die kurzen Mignones und die mittellangen Milonguitas, das sind die Semmeln von der Website. 24 Pesos (3,20 Euro) kostet das Kilo „Spezialbrot“, etwa Mohn- und Sesamwecken, Kastenlaibe mit einem Anteil Weizenschrot. Und 39 Pesos (5,20Euro) kostet ein Dutzend Facturas, jenes Süßgebäck, das die Argentinier zum Frühstück und vor allem zum Nachmittagskaffee mit Genuss verzehren: Croissants, Blätterteigschnitten, Schmalzkrapfen und Kringel. Vor drei Jahren gab es das süße Dutzend noch für umgerechnet zwei Euro.

Das tägliche Brot ist Luxus geworden in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung weniger als 500 Euro im Monat verdient. Die Preise für alles, was aus Mehl fabriziert wird, also auch Nudeln und Pizza, sind noch wesentlich schneller gestiegen als die durchschnittliche Inflation, die seit 2007 jährlich zwischen 20 und 25 Prozent zugelegt hat. Den Preissprung erklären die Behörden mit einer Missernte. Aber die schlechteste Ausbeute seit 1899 ist nicht allein das Resultat widrigen Wetters. Sie ist die Folge einer bizarren Politik, die es fertigbrachte, dass nicht nur die Exporte, sondern auch das Angebot im Inland massiv zurückgingen.

Gesegnetes Agrarland. Argentinien ist, das erkennen Besucher schon beim Anflug auf den Hauptstadtairport, ein überaus gesegnetes Agrarland. Kurze Winter und feuchtwarme Sommer machen aus der fast 1000 Kilometer breiten, baumarmen Pampa mit den dicken Humusböden ein hochproduktives Treibhaus, das Nahrungsmittel für mehr als 300 Millionen Menschen produzieren könnte. Tatsächlich ist die Agrarwirtschaft seit mehr als 100 Jahren auf den Export ausgerichtet. Lange war Argentinien der größte Fleischexporteur der Welt. Heute ist das Land aus den Top Ten auf dem internationalen Fleischmarkt verschwunden. Und dieses Jahr wird die „Kornkammer der Welt“, wie die Argentinier ihr Land gern bezeichnen, auch nicht mehr zu den zehn größten Weizenlieferanten gehören.

Die Regierung hat das übrigens als Großtat verkündet. Denn Ende Juni, als die Brotpreise galoppierten, verhängte Präsidentin Kirchner ein generelles Exportverbot für Weizen und zwang internationale Großhandelsfirmen, zwei Millionen Tonnen Weizen, die für die Ausfuhr absortiert waren, auf den Inlandsmarkt umleiten. „Wir schützen die Tafel der Argentinier“ ist der nun erneut bemühte Leitspruch, mit dem die Regierung Kirchner die meisten ihrer zahlreichen Interventionen in den Lebensmittelmarkt schönredet.

Um diese Geschichte zu erklären, bedarf es eines Rückblicks ins vorige Jahrzehnt. Nach dem Staatsbankrott 2002 wurde der Peso um zwei Drittel abgewertet, was 56 Prozent des Volkes zunächst unter die Armutsgrenze fallen ließ. Doch für den Agrarsektor war die Möglichkeit, zu einem Drittel der bisherigen Kosten zu produzieren, ein gigantischer Wettbewerbsvorteil. Angetrieben von Asiens Rohstoffhunger brachte „El Campo“ das Land erstaunlich schnell wieder auf die Beine. Zwischen 2003 und 2005 wuchs die Wirtschaft jährlich um über acht Prozent, die Leute begannen wieder zu konsumieren. Die Regierung des 2003 angetretenen Néstor Kirchners fachte die Kauflaune mit kräftigen Subventionen für Wasser, Energie und öffentliche Verkehrsmittel an. Doch es sollte nicht allzu lang dauern, ehe diese Fiesta ihre ersten Auswirkungen zeigte: Im September 2005 überquerte die Inflationsrate erstmals seit dem Absturz die Zehn-Prozent-Marke.

Kirchner reagierte mit einem Griff in die ökonomische Mottenkiste. Er verhängte Exportbeschränkungen und zeitweise komplette Verbote für das, was die Argentinier besonders gern konsumieren: Fleisch und Weizen. Das Resultat war wunderbar – auf den ersten Blick. In den Supermärkten wurden nun die schmackhaftesten Export-Steaks um zwei Euro pro Kilo verhökert, und ein Kilo Brot kostete umgerechnet 60 Cent. Doch lang währte er nicht, dieser Traum vom Schlaraffenland. Denn jene, die ihn mit 40 bis 50Prozent ihrer bisherigen Einkünfte bezahlen sollten, machten nicht mit.

Viele Landwirte, die bis zur staatlichen Intervention bis zu 16 Millionen Tonnen Weizen im Jahr produziert hatten, stiegen auf Getreide um, die im Lande kaum konsumiert werden, etwa Gerste und vor allem Soja. Argentiniens Weizenproduktion fiel auf neun Millionen Tonnen im Jahr, wovon der Inlandsmarkt etwa zwei Drittel vertilgte. Die Anbaufläche reduzierte sich Jahr für Jahr, bis 2012 die geringste Aussaat seit 111 Jahren vermeldet wurde. Ein überfeuchtes Frühjahr ließ einen Pilz namens Fusarium gedeihen, der etwa 30Prozent der Ernte unbrauchbar machte.

Es war die Kombination aus geringem Anbau, schlechtem Ertrag und mieser Qualität, die den Weizenpreis förmlich explodieren ließ. Die Tonne des Korns kostete im Juni bis zu 520Dollar, das doppelte des Weltmarktpreises. In den meisten Ländern würde die Regierung in dieser Situation versuchen, Weizen zu importieren. Doch Argentiniens Regierung reagierte mit dem Motto „Achten wir auf das Unsere!“ und verbot alle Exporte. Während Zeitungen berichteten, dass Flussfähren unter der Duldung der Behörden tonnenweise Mehl und Getreide von Uruguay nach Argentinien schipperten, setzte der mächtige Staatssekretär für den Binnenhandel, Guillermo Moreno, ein Notstandsgesetz in Kraft, das es den Behörden erlaubt, alles gehortete Getreide zu beschlagnahmen. Moreno – wie seine Chefin Kirchner ein Anhänger von Verschwörungstheorien – glaubte wirklich, dass Produzenten große Mengen Getreide versteckten, obwohl der Weizen so teuer wie noch nie war. Der für seine Methoden berüchtigte Funktionär zwang die Supermarktketten dazu, Brot für zehn Pesos pro Kilo anzubieten. Doch dieses Backwerk ist stets spätestens um zehn Uhr morgens ausverkauft.

Sinkender Rinderbestand. Seit Jahren liegt die Regierung Kirchner mit den Agrarverbänden im Clinch. Obwohl „El Campo“ der größte Devisenbringer des Landes ist, gibt es kaum Gespräche zwischen beiden Seiten. Die Resultate dieser Eiszeit sind verheerend, auch in der Milch- und Fleischindustrie: Der Rinderbestand in der Pampa ging seit 2007 von 60 Millionen auf 50 Millionen zurück. Der ehedem wichtigste Fleischexporteur der Welt lag 2012 mit 180.000 ausgeführten Tonnen auf Platz elf, Brasilien exportiert fast achtmal so viel Beef. Selbst Uruguay, in dem nur zehn Millionen Rinder grasen, exportiert mehr als Argentinien, gemessen an Menge und Verkaufserlös. Da viele ehemaligen Exportfleischproduzenten ihre Weiden nun an Sojapools verpachtet haben, erfüllt Argentinien seit drei Jahren nicht einmal mehr die sogenannte Hilton-Quote, die es dem Land erlaubt, jährlich 28.000 Tonnen Beef aus Weidemast zollfrei in die EU einzuführen. Seit der Intervention mussten 128 Schlachthöfe schließen, bis zu 15.000 Menschen haben ihren Job verloren.

Ein Großteil der Pampa ist heute mit Sojamonokulturen bedeckt, deren Früchte fast komplett nach China verkauft werden, wo sie Schweinemägen füllen. „Letzten Endes bewirkte der Protektionismus der Regierung, dass wir mehr exportieren denn je“, sagt Gustavo López von der Beratungsfirma Agrotrend.

Dieser Tage endete in der Pampa die Winteraussaat. Die Getreidebörse in Rosario meldete, dass Weizenkörner auf 3,9 Millionen Hektar verteilt worden seien, das sind fast 20Prozent mehr als 2012. Wenn das Wetter mitspielt, müsste im kommenden Jahr genug Mehl für „die Tafel der Argentinier“ da sein. Dass deshalb die Preise sinken, erwartet trotzdem niemand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2013)

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