Die USA haben Europas Seuche

(c) EPA (JUSTIN LANE)
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Seit 1977 war der Anteil der Amerikaner auf dem Arbeitsmarkt nicht so gering wie heute. Immer mehr Menschen geben die Jobsuche auf.

Washington.155 Millionen Amerikaner hatten im Oktober eine Arbeit oder suchten eine. Und dass in diesem Monat überraschenderweise mehr als 200.000 neue Jobs dazugekommen sind, freute das Weiße Haus und die versammelte US-Wirtschaftspresse. Ihr Tenor: Amerikas Wirtschaft rappelt sich auf. Die Arbeitslosenrate wuchs zwar im selben Zeitraum von 7,2 auf 7,3 Prozent. Doch das ist erstens nur ein winziger Anstieg. Zweitens dürfte die zwangsweise 16-tägige weitreichende Blockade der Bundesregierung durch den Kongress die Statistik angepatzt haben. In einem Monat sollte der Effekt des Shutdown ausgebügelt sein. Alles roger, also?

Mitnichten. Egal, welche Zahl man aus dem statistischen Fundus des US-Arbeitsministeriums fischt: Der Arbeitsmarkt ist in einem besorgniserregenden Zustand. Die Beschäftigungsquote ist mit 62,8 Prozent so niedrig wie zuletzt 1977. Allein in den vergangenen zwölf Monaten ist sie um einen Prozentpunkt gesunken. Die Jugendarbeitslosigkeit (16- bis 19-Jährige) hat sich seit 2000 von 12,8 auf 22,2 Prozent fast verdoppelt, die Zahl der Langzeitarbeitslosen mehr als versechsfacht: Vier Millionen der 11,3 Millionen arbeitslosen Amerikaner suchen seit mehr als 27 Wochen eine neue Stelle. Durchschnittlich ist jeder von ihnen 36,1 Wochen ohne Job: Diese Dauer hat sich seit Ausbruch der großen Rezession vor fünf Jahren mehr als verdoppelt.

Jobkrise alarmiert Notenbank

Und immer mehr Amerikaner lassen alle Hoffnung fahren, je wieder einen Job zu finden. 2,3 Millionen würden gern arbeiten, haben aber seit mindestens einem Monat nicht mehr gesucht. Jeder Dritte von ihnen sucht aus Frustration gar nicht mehr (diese Gruppe hat sich seit 2000 mehr als verdreifacht).

David Blanchflower, Wirtschaftsprofessor am Dartmouth College, fasste diesen Befund vergangene Woche bei einem Seminar am Institute for International Economics in Washington so zusammen: „Die USA sehen nun wie ein europäisches Land mit steigender Langzeitarbeitslosigkeit aus.“

Das sieht die US-Notenbank Fed ähnlich. Am Freitag stellte ihr Chefökonom David Wilcox in Washington eine Studie vor, in der die Fed vor einem „strukturellen Schaden des Arbeitsmarktes“ warnt. Die Langzeitarbeitslosenrate sei von ihrem Höchststand von 4,3 Prozent im April 2010 nur auf 2,7 Prozent gesunken – und sei damit dreimal so hoch wie vor der Krise. So etwas habe Amerika seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt.

Gewiss: Selbst Nevada, der US-Bundesstaat mit der höchsten Arbeitslosigkeit von zuletzt 9,5 Prozent, liegt noch immer unter dem EU-Mittelwert von elf Prozent. Doch das Los der Erwerbslosen in Amerika ist deutlich prekärer als in Europa: Wer den Job verliert, steht rasch ohne Krankenversicherung da. Und Arbeitslosengeld gibt es in den USA höchstens für ein halbes Jahr. Nur 2,9 Millionen Amerikaner ohne Job beziehen es derzeit. Das ist nicht einmal jeder Dritte.

Leitartikel: Seite 2

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2013)

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