Ökonomiedebatte: Friede den Hütten, Friede den Palästen?

(c) REUTERS (PILAR OLIVARES)
  • Drucken

Thomas Pikettys „Capital in the 21st Century“ wird jetzt heftig kritisiert. Wirtschaftsliberale meinen, dass die Ungleichheit heute keine Rolle mehr spiele. Doch Pikettys These steht und fällt mit der Qualität seiner Daten.

Wenn Robert Shrimsley richtigliegt, dann haben wir gerade die dritte Phase des Thomas-Piketty-Hypes erreicht. Ende April hat der Kolumnist der „Financial Times“ den grandiosen Einfall, den Trubel rund um den französischen Ökonomen und sein im Vorjahr erschienenes Opus magnum „Le capital au XXIe siècle“ anhand der Etappen einer Spekulationsblase zu gliedern. Herausgekommen ist dabei eine in neun Abschnitte unterteilte Fieberkurve, die mit „Buy-in“ beginnt (die intellektuellen Hipster investieren ihr geistiges Kapital in Piketty) und mit „Umzug“ endet: Pikettys Œuvre wird vom Ehrenplatz im Wohnzimmer ins Regal am Klo verfrachtet, wo es zwischen Fukuyamas „Das Ende der Geschichte“ und Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ darauf wartet, wiederentdeckt zu werden . . .

Noch ist es nicht so weit. Seit der Publikation der englischen Übersetzung („Capital in the 21st Century“) im März wird Piketty gefeiert. Mit seiner These, dass die Schere zwischen Vermögen und Arbeitseinkommen dazu tendiert, sich immer weiter zu öffnen, fasste er als Erster jenes nagende Gefühl vieler Zeitgenossen in Worte, das diese bis dato nicht präzise artikulieren konnten: die Intuition, dass die Motoren der freien Marktwirtschaft nicht rund laufen. Nach euphorischen Rezensionen von Kapazundern wie Paul Krugman und Branko Milanović (Phase zwei) schlägt das Pendel nun in die Gegenrichtung aus: Der Widerspruch wird lauter. Es ist die dritte Stufe des Hypes – der „Backlash“.

Die Kritik lässt sich in drei Kategorien einteilen. Da wären zunächst einmal jene, die Pikettys Grundprämisse anzweifeln. Den Dreh- und Angelpunkt seines Buchs bildet die Formel r > g – Kapitalrenditen liegen demnach konstant über der Wachstumsrate der Gesamtwirtschaft, was zu immer größerer Konzentration von Vermögen führt. Gemäß der orthodoxen Ökonomie sollte dies nicht der Fall sein, doch Piketty argumentiert nicht theoretisch, sondern auf Basis seiner Datenbank zur Entwicklung der Vermögen im Lauf der vergangenen drei Jahrhunderte.

Wenn es einen Widerspruch zwischen Zahlen und Theorie gibt, dann hat nicht Piketty ein Problem, sondern die Theoretiker, schreibt der britische „Economist“ süffisant – wobei mittlerweile auch Zweifel am statistischen Material laut werden. Recherchen der „Financial Times“ haben ergeben, dass manche Zahlen in Pikettys Matrix nicht nachvollziehbar sind und ohne sie der Trend zur Kapitalakkumulation weniger ausgeprägt ist. In einer ersten Reaktion nahm Piketty die Vorwürfe zur Kenntnis – seinen Befund, wonach der Abstand zwischen Reich und Arm stetig zunimmt, sieht er aber nach wie vor bestätigt.

Der zweite Kritikpunkt, der u. a. vom US-Ökonomen Tyler Cowen vorgebracht wurde, lautet so: Wenn Piketty recht hat, dann müssten wir von den Nachfahren der römischen Kaiser beherrscht werden. Cowen weist darauf hin, dass Vermögen nicht nur gemacht, sondern auch verloren werden – „die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet es, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt“, wie es Otto von Bismarck formuliert hat.

Die High Society trotzt der Entropie

Doch dieses Buddenbrooks-Prinzip wird inzwischen auch infrage gestellt. Zu Hilfe kommt Piketty das Anfang 2014 erschienene Buch „The Son Also Rises“. Sein Verfasser, Gregory Clark, hat anhand von Familiennamen die soziale Mobilität seit dem Mittelalter untersucht und kommt zu dem Schluss, dass die Nachkommen mittelalterlicher Eliten heute im Schnitt immer noch bessergestellt sind, als dies eigentlich der Fall sein müsste. Die High Society scheint also über dem Gesetz der sozialen Entropie zu stehen.

Bleibt der dritte Einwand: Die Ungleichheit mag zwar zugenommen haben, sie spielt aber angesichts gestiegener Lebensstandards keine Rolle mehr. 1960 mögen die materiellen Besitztümer gleichmäßiger verteilt gewesen sein, doch einem durchschnittlichen Arbeiter gehe es anno 2014 viel besser als vor einem halben Jahrhundert, lautet das Argument – denn 1960 habe es ja keine Pauschalreisen, Handys, Internet und Diskonter gegeben.

Es ist eine verlockende Vision, die die Apologeten der Ungleichheit zeichnen: die Nivellierung aller gesellschaftlichen Widersprüche unter dem flauschigen Banner von Ryanair und H&M. Wenn die leiblichen und intellektuellen Grundbedürfnisse erfüllt sind, gibt es demnach keinen Grund mehr, auf die Barrikaden zu steigen – solange es in den Favelas fließendes Wasser und WLAN gibt, ist alles in Ordnung. Friede den Hütten, Friede den Palästen.

Dass dieser Versuch, Piketty im Weichspüler zu ertränken, nicht recht gelingen will, hat drei Gründe: Zum einen sind es durchwegs Vertreter der Eliten, die den Unterprivilegierten erklären, welche Ansprüche sie haben sollen. Zweitens ist der Verweis auf die Vergangenheit ein Kniff, mit dem sich selbst die Emanzipation der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert wegargumentieren ließe – denn im Vergleich zur Steinzeit ging es dem frühindustriellen Lumpenproletariat ja prächtig. Doch selbst wenn man sich auf den Vergleich mit 1960 einlässt, ist das Bild nicht eindeutig: Es stimmt schon, dass es in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit keine billigen T-Shirts, Urlaube in Phuket und Internet zum Fixpreis gegeben hat – dafür aber geregelte Arbeitszeiten, fixe Anstellungen und garantierte Pensionen.

Ähnlichkeit mit der Klimadebatte

Diese Argumentationsmuster erinnern an die Debatte über die Erderwärmung. Als die Beweislage immer erdrückender wurde, wechselten viele Skeptiker ihre Taktik: Es möge schon stimmen, hieß es dann, dass sich das Klima verändert, das sei aber erstens nicht durch Menschen verursacht und zweitens nicht so schlimm. Ähnlich wie bei der Klimadebatte hängt im Disput um die Kluft zwischen Arm und Reich alles von den vorhandenen Daten ab. Thomas Pikettys These steht und fällt mit der Qualität seiner Spreadsheets. Sollten sie sich als minderwertig erweisen, ist es vorbei mit dem Hype. Und „Le capital au XXIe siècle“ wird nicht einmal einen Platz im Regal am Klo finden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.