Japans verkehrte Welt

JAPAN ECONOMY
JAPAN ECONOMYAPA/EPA/FRANCK ROBICHON
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Gut zwei Jahrzehnte lang ist Japans Wirtschaft kaum gewachsen, aber zuletzt brummte das Land stärker als viele andere Industrienationen. Nur die Bevölkerung spürt davon bisher wenig. Warum?

Shinichiro Murahata glaubt nicht mehr an die Verheißungen der letzten Monate. „In den Zeitungen steht immer, dass die Wirtschaft wieder wächst. Aber was bringt mir das?“, fragt der 30-Jährige. In Kawagoe, einem mittelgroßen Ort rund 30 Autominuten nördlich von Tokio, kommt Shinichiro Murahata gerade von der Arbeit und setzt sich in ein Café, um zu lesen. Da stößt er dann wieder auf diese vermeintlich guten Nachrichten. Aber für Murahata, der ausgebildeter Soziologe ist und seit fast drei Jahren als Englischübersetzer und Buchhalter bei einer Zeitarbeitsfirma arbeitet, ist die oft angekündigte Lohnsteigerung ausgeblieben.
Dabei müsste es bald so weit sein. Rund zwei Jahrzehnte lang ist Japans Wirtschaft praktisch nicht gewachsen. Aber 2013 war ja ein vergleichsweise gutes Jahr. Um 1,6 Prozent nahm das Bruttoinlandsprodukt zu, mehr als in vielen anderen Industrienationen. Die Zahl derer, die optimistisch in die Zukunft blicken, hat seither zugenommen. Premierminister Shinzo Abe hat sinngemäß schon unzählige Male verkündet: „Meine Wirtschaftspolitik funktioniert!“ Viele in Japan würden so ein Statement schon unterschreiben. Aber ebenso viele bleiben skeptisch. Erfüllt „Abenomics“ seine Versprechen?
Schnell, nachdem Shinzo Abe vor gut eineinhalb Jahren zu Japans Premierminister gewählt worden war, machte diese Vokabel Schlagzeilen auf der ganzen Welt. „Abenomics“, das ist das Paket aus wachstumsorientierten Strukturreformen, hohen Staatsausgaben und einer lockeren Geldpolitik. Auf diesen drei Elementen beruhend stellte Abe den Wählern in Aussicht, dass die vorigen zwei Jahrzehnte ökonomischer Dürreperiode ein Ende haben. „Japan, wir holen es uns zurück!“, kündigten die Wahlplakate in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt an, die noch lange nach Abes Wahlsieg auf Japans Straßen prangten.

50 Überstunden im Monat. Auch in Kawagoe blieben sie lange kleben. Für die meisten Menschen hier müsste die Zurückeroberung ihres Landes bedeuten: Wachstum, Optimismus, steigende Löhne. Wachstum, ja, das gibt es mittlerweile. Auch der Optimismus nimmt eben zu. Aber die Löhne? Shinichiro Murahata schüttelt den Kopf. „Letzten Monat habe ich 280.000 Yen (Anm.: rund 2030 Euro) verdient, inklusive 50 Überstunden. Als ich vor knapp drei Jahren anfing, war es genauso viel. Und da sprach noch keiner von neuem Wirtschaftswachstum.“ Die Überstunden werden ihm nicht bezahlt, die Krankenversicherung ist nicht inbegriffen, Jobsicherheit hat Shinichiro Murahata auch keine. Jeden Monat könnte er einfach so rausgeschmissen werden. Es ist das Übliche für junge Japaner. Etwas mehr als die Hälfte arbeitet in irregulären Beschäftigungsverhältnissen.
„Abenomics“ hat daran so wenig geändert wie am Lohnniveau. Eher ist das Gegenteil der Fall. Seit Jahren fallen die Reallöhne, zuletzt auch im Juni. Die Ausgabenprogramme von Abes Wirtschaftspolitik in Höhe von 20,2 Billionen Yen (rund 146 Milliarden Euro) begünstigen vor allem die Baubranche. Die meisten Strukturreformen, die Einstellungen begünstigen und den Wettbewerb stärken sollen, lassen auf sich warten. Und als Abe den ihm gefälligen Haruhiko Kuroda als Zentralbankchef einsetzte und damit ein enormes Gelddruckprogramm in Gang setzte, begannen immerhin die Preise zu steigen. Schließlich kauft Japans Zentralbank jährlich 50 Billionen Yen (rund 360 Milliarden Euro) an Staatsanleihen.
Japans Deflation, die das Land seit dem Platzen einer Spekulationsblase Anfang der 1990er-Jahre gehemmt hat, nachdem das Vertrauen in Wachstum geschwunden war und Unternehmen wie Haushalte mit großen Ausgaben zögerten, könnte damit allmählich beendet sein. Zwei Prozent Preissteigerung pro Jahr hat sich Japans Zentralbank zum Ziel gesetzt, und es könnte erreicht sein. Abe versprach schon im Juli letzten Jahres: „Es wird sich eine positive Spirale in Gang setzen.“ Der Gedanke hinter dieser angebotsorientierten Politik: Preissteigerungen und die Erwartungen künftiger Inflation verbieten das Horten von Geld, Investitionen werden kommen, die wiederum Wachstum erzeugen. Am Ende steigen die Löhne.

Die Löhne steigen nicht.
Momentan aber sinken sie. „Das Schnellrestaurant, wo ich zu Mittag esse, hat die Preise angehoben“, sagt Shinichiro Murahata. „Wenn ich nicht mehr verdiene, habe ich unterm Strich weniger.“ Dass die Regierung zur Bekämpfung der Staatsschulden im Frühling noch die Mehrwertsteuer von fünf auf acht Prozent hob, und diese im kommenden Jahr auf zehn Prozent erhöhen wird, drückt zusätzlich auf die Realeinkommen. „So kann ich mir wirklich wenig leisten“, sagt Shinichiro Murahata. „Am Anfang habe ich in die Politik von Abe vertraut. Jetzt bin ich nicht mehr sicher.“
Hätte man auf die Versprechen überhaupt vertrauen sollen? In einem Hörsaal der Universität Tokio, Japans angesehenster Hochschule, erklärt Satoshi Koibuchi den Studenten beinahe das Gegenteil. „Dass bei einer monetären Expansion das Preisniveau steigt, ist keineswegs selbstverständlich“, sagt der Professor für Makroökonomie. Schließlich geht das Geld, das die Zentralbank zur Verfügung stellt, nicht in den Wirtschaftskreislauf, sondern zu Geschäftsbanken. Denen steht es frei, dies an Betriebe und Haushalte zu verleihen, oder die eigenen Bilanzen zu stärken.
Selbst wenn das Geld in den Betrieben landet, steigen noch nicht die Löhne. „Betriebe erhöhen ihre Löhne nicht in Erwartung auf steigende Preise und steigendes Wachstum. So etwas basiert eher auf Zahlen der Vergangenheit“, sagt Koibuchi. Bisher gibt es diese Zahlen kaum. Dass die Deflation überstanden ist, gilt noch nicht als sicher.
Ähnlich sieht das die Unternehmerin Merle Aoki Okawara. Ihr Betrieb JC Cosma bietet Lebensmittel an, und obwohl die börsennotierte Firma nicht Not leidet, waren in den letzten zehn Jahren keine Preissteigerungen möglich. „Unsere 2000 Mitarbeiter machen tolle Arbeit“, sagt sie. Gehaltserhöhungen wären dran. „Aber wenn ich die Erlöse nicht erhöhen kann, ist das schwierig.“ Das Momentum für die Aufbruchstimmung, von dem die Medien in Japan schreiben, lässt auf sich warten. Hie und da wurden Bonuszahlungen erhöht. Allerdings gilt dies nur für einen Bruchteil der Arbeitnehmer. Einige Konzerne, etwa der weltgrößte Autobauer Toyota und der führende Technologiekonzern Hitachi, haben höhere Gehälter angekündigt. Grund zur Hoffnung, dass mehr Unternehmen dasselbe tun? Keisuke Fuse ist nicht optimistisch. Der Sprecher des Gewerkschaftsbunds Zenroren sieht die Arbeitnehmer als die Verlierer von Shinzo Abes Wirtschaftspolitik. „Abe setzt einen Trend fort, der vor zehn Jahren unter Premier Junichiro Koizumi begonnen hat. Der Arbeitsmarkt wird dereguliert, das Wachstum kommt vor allem Unternehmen zugute.“ Dass Inflation automatisch die Löhne erhöht, glaubt Fuse auch nicht. Schließlich fehlt den Gewerkschaften in Japan auch der Einfluss für eine kollektive Verhandlungsmacht.

Einkommensunterschiede steigen. So warnte auch die OECD zuletzt davor, dass die lang ersehnte Inflation vor allem negative Folgen hervorrufen könnte. Chefökonom Rintaro Tamaki mahnte, dass die Entwicklung die in den letzten Jahren schon gestiegene Einkommensungleichheit weiter verschärfen könnte. Als in Japan Deflation herrschte, seien die Reallöhne auch ohne Gehaltssteigerungen tendenziell nach oben gegangen. „Jetzt müssen die Menschen genau überlegen, wie sie ihre Fähigkeiten einsetzen können, um eine bessere Bezahlung zu erhalten“, beobachtet Tamaki. Obwohl die Inflation zuletzt zunahm, sanken die Reallöhne im Mai um 3,6 Prozent verglichen mit einem Jahr zuvor. Die stärkste Abnahme seit Ende 2009.
Der private Konsum macht immerhin rund 60 Prozent der japanischen Wirtschaftsleistung aus. Niemand bezweifelt daher, dass zu einem langfristig höheren Wachstum nicht nur höhere Unternehmensgewinne gehören, sondern auch steigende Löhne. Aber es wird keine Debatte geführt, ob dies durch entsprechend hohe Mindestlöhne erreicht werden könnte, sonstige stärkere Verpflichtungen für Arbeitgeber, oder auf andere Weise. Shinzo Abe hat lediglich die Empfehlung ausgesprochen: Höhere Löhne wären wünschenswert. Keiner widerspricht. Katsunori Nemoto, zuständig für Industriepolitik bei Japans Industrieverband Keidanren, sagt dazu: „Unsere Betriebe stehen im globalen Wettbewerb. Die Lage ist auch für uns nicht einfach.“
Unterdessen gibt es andere Entwicklungen, die einen Einbruch des Konsums zumindest abfedern könnten. Im Juni wurden 360.000 neue Teilzeitjobs geschaffen, und solche Stellen gingen vor allem an Frauen. Der Anteil der weiblichen Beschäftigung, der im offiziell als erwerbsfähig angesehen Alter zwischen 15 und 64 Jahren in Japan deutlich unter dem Durchschnitt der Industrieländer liegt, kann damit ein Stück erhöht werden. Mittlerweile haben 64 Prozent der Frauen einen Job.
Allerdings liegt dies nicht notgedrungen daran, dass sie so begehrt sind. Zum einen werden Arbeitskräfte in Japan zur knappen Ware. Die hohe Lebenserwartung und eine geringe Geburtenrate führen zu einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung. Andererseits verdienen Frauen in Japan für gleiche Arbeit ein Drittel weniger. Den 360.000 neuen Teilzeitjobs im Juni standen zudem 200.000 weniger Vollzeitstellen gegenüber. Auf steigenden Konsum könnten die neuen Jobs also hindeuten, da mehr Personen Einkommen beziehen. Nach steigenden Löhnen eher nicht.

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