Jeffrey Sachs: "Europas Marktwirtschaft ist die bessere"

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US-Ökonom Jeffrey Sachs, der einst Osteuropas Transformation als Berater begleitet hatte, sieht heute Nordeuropa mit seiner sozialen Marktwirtschaft als globales Vorbild. Aus der Perspektive der USA stehe er heute eher links.

Die Presse: Der Präsident des Alpbach-Forums, Franz Fischler, hat eine Neuorientierung der europäischen Wirtschaftspolitik gefordert. Brauchen wir nach der Finanz- und Schuldenkrise tatsächlich neue Werte in unserem ökonomischen System?

Jeffrey Sachs: Ja, ich glaube, dass wir neue Werte brauchen und auf eine nachhaltige Entwicklung setzen müssen. Es ist zu beobachten, dass sich immer mehr Länder diesem Konzept anschließen wollen. Die Gesellschaft braucht einen integrierten Zugang. Wir können uns nicht länger allein am Wirtschaftswachstum orientieren. Wir brauchen eine wirtschaftliche, soziale und ökologische Ausrichtung. Das bedeutet aber auch, dass wir den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken, dass wir die Ungleichheit und Armut bekämpfen müssen. Nächstes Jahr wollen die Vereinten Nationen gemeinsame Ziele für eine nachhaltige Entwicklung festlegen. Daran setze ich große Hoffnungen. Wenn 193 Länder eine neue Orientierung in Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt akzeptieren, wäre das ein großer Schritt.

In dieser Wertedebatte wird derzeit sehr oft das kapitalistische System infrage gestellt. Zu Recht?

Einige Teile der kapitalistischen Welt funktionieren äußerst gut. Schauen Sie auf Österreich, Deutschland oder andere Länder Nordeuropas. Das ist gleichzeitig der demokratischste, sozialste und umweltfreundlichste Teil der Welt. Anders sieht es in den USA aus. Technologisch sind die Vereinigten Staaten nach wie vor das dynamischste System weltweit. Ihr politisches und soziales Modell ist hingegen derzeit kein globales Vorbild.

In Europa ist aber auch nicht alles ideal gelaufen. Schauen Sie sich die jüngste Entwicklung in den hoch verschuldeten Krisenländern an.

Europa ist ein Desaster, wenn Sie in den Süden des Kontinents schauen, es ist aber nach wie vor eine Erfolgsgeschichte, wenn Sie den Norden betrachten.

Sie haben sehr stark die soziale Dimension hervorgehoben und auf die Kluft zwischen Arm und Reich verwiesen. Doch wie soll diese Kluft überwunden werden? Unterstützen Sie Forderungen des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty nach einer globalen Vermögensteuer?

Die soziale Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland, Österreich oder Schweden praktiziert wird, ist nicht mit einem extremen Auseinanderklaffen der Gesellschaft wie etwa in den USA konfrontiert. Wir können am Erfolg dieser Länder erkennen, dass wir uns an einer gemischten Wirtschaftspolitik orientieren müssen, nicht an einer reinen freien Marktwirtschaft. Wir brauchen weiterhin signifikante staatliche Transferleistungen – etwa 40 Prozent der Einkünfte oder sogar mehr. In den USA haben wir derzeit 30 Prozent. In den Vereinigten Staaten erleben wir, wie die armen Gesellschaftsschichten immer mehr absinken, die Reichen aber ständig zulegen können. Solche kapitalistischen Systeme laufen Gefahr, dass die Wirtschaft letztlich die Regierung in Besitz nimmt. In meiner Heimat ist das Realität. Da der reichste Teil der Gesellschaft in ihrem eigenen Sinne Einfluss auf die Gesetzgebung nimmt, wird er immer reicher, die Ungleichheit nimmt zu.

Um auf ihre Frage zurückzukommen: Es gibt keine einfache, technokratische Lösung für dieses Problem. Aber das Modell der sozialen Marktwirtschaft, wie sie in Europa praktiziert wird, ist am nächsten dran. Hier wird nämlich versucht, das Beste der Marktwirtschaft mit sozialen Lösungen zu verknüpfen. Wir sehen, dass das nicht immer perfekt funktioniert. Aber es ist weit besser als das amerikanische Modell.

Sie waren in der Vergangenheit stärker in Richtung freier Marktwirtschaft orientiert als heute – oder täuscht der Eindruck? Als Berater haben Sie osteuropäischen Regierungen dabei geholfen, eine Transformation zur Marktwirtschaft zu vollziehen. Sind Sie in der Krise nach links gewandert?

Ich wurde sicher auch missverstanden, als ich 1989 Vorschläge für die wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa erarbeitet habe. Damals wurde ich als Anwalt des freien Markts tituliert. Ich war manchmal amüsiert, aber auch manchmal frustriert, wie meine Ideen interpretiert wurden. 1989, als ich von der polnischen Regierung beauftragt wurde, habe ich für eine rasche Transformation in ein marktwirtschaftliches System plädiert. Ich habe aber keine völlig freie Marktwirtschaft, sondern eine europäische Marktwirtschaft gemeint. Ich weiß eigentlich nicht, ob ich mich ideologisch bewegt habe. Jedenfalls hat sich die USA nach rechts bewegt, also stehe ich nun wohl automatisch mehr auf der linken Seite.

Was halten Sie von den Vorbereitungen für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU?

Ich bin da skeptisch. Zum einen, weil die Verhandlungen derart geheim geführt werden, und zum anderen, weil offensichtlich ist, dass sie von mächtigen Lobbys gesteuert werden. Ich fürchte, dass diese nicht ausreichend auf ökologische und soziale Aspekte ausgerichtet sind. Wenn ein weiteres Abkommen abgeschlossen wird, das die Macht von Investoren stärkt, dann bewegen wir uns in die falsche Richtung. Und ich habe den Eindruck, dass diese Verhandlungen von den Interessen potenzieller Investoren getrieben werden.

ZUR PERSON

Jeffrey Sachs ist einer der bekanntesten Wirtschaftswissenschaftler der USA. Seit 2002 ist er UN-Sonderberater für die Millennium Development Goals. Er beriet osteuropäische Länder bei deren Transformation zur Marktwirtschaft. Er nahm am diesjährigen Forum Alpbach teil.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2014)

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