Ex-WTO-Chef Lamy: "Lebensmittel sind keine Socken"

(c) Clemens Fabry
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Pascal Lamy, langjähriger Chef der Welthandelsorganisation, kann verstehen, warum Nahrungsmittel subventioniert werden. Letztendlich würde mehr freier Handel aber trotzdem allen Vorteile bringen.

Die Presse: Ich habe gehört, Sie sind ein passionierter Marathonläufer. Sind Sie in Alpbach schon eine Runde gelaufen?

Pascal Lamy: Noch nicht, aber das werde ich auf jeden Fall machen.

Marathon laufen klingt nach einem guten Hobby für einen langjährigen WTO-Chef: Man benötigt viel Ausdauer.

Da haben Sie recht.

Ausdauer ist auch bei der Handelsliberalisierung das Stichwort. Die WTO gibt es seit 20 Jahren – und immer noch ist es nicht gelungen, ein globales Abkommen zum Abbau von Handelsbarrieren zu beschließen. Warum?

Weil es nicht wirklich darauf ankommt. Ob man Handel regional, bilateral oder global öffnet, ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass man es tut – und das ist der Fall. Die Märkte sind heute offener als noch vor zehn Jahren, und in zehn Jahren werden sie offener sein als sie es heute sind. Die Akteure kümmert es nicht, ob die Erleichterungen nun von der WTO beschlossen wurden oder nicht.

Warum brauchen wir dann überhaupt eine weltweite Handelsorganisation?

Es geht ja nicht nur um einen neuen Handelspakt, denn eine wichtige Aufgabe der WTO ist die Überwachung bereits beschlossener Handelserleichterungen. Und natürlich gibt es Situationen, in denen es besser wäre, eine weltweites Abkommen zu schließen, zum Beispiel bei den Agrarsubventionen. Denn es würde gerechtere Bedingungen schaffen. Ich persönlich glaube, dass eine globale Lösung immer die beste ist. Aber es ist nicht die einzige Lösung. Letztendlich zählt, ob es funktioniert. Die Chinesen würden sagen: Nicht die Farbe der Katze ist wichtig, sondern ob sie Mäuse fängt.

Noch vor einem halben Jahr hat alles danach ausgesehen, als ob bei den WTO-Gesprächen in Bali der Durchbruch erzielt worden wäre. Nun hat Indien den ersten multilateralen Kompromiss seit 1994 blockiert, weil es seine Agrarsubventionen nicht kürzen will. Hat Sie das überrascht?

Nein, das war absehbar und hatte innenpolitische Gründe. Wie in vielen Fällen haben die Verhandler ihre Zeit lieber damit verbracht, zu Hause zu verhandeln anstatt mit anderen Diplomaten zu reden. Ich denke aber, dass es am Ende eine Lösung geben wird, da alle WTO-Mitglieder – Indien inklusive – von den Handelserleichterungen stark profitieren werden.

Die USA und die EU sind jahrelang durch hohe Agrarsubventionen negativ aufgefallen. Ist es fair, dass jetzt Indien am Pranger steht, weil es seine Bauern durch Reiskäufe für die arme Bevölkerung unterstützt?

Die Welt verändert sich. Und das ist gut, denn normalerweise verändert sie sich zum Besseren. Die USA und Europa haben ihre Agrarsubventionen in den vergangenen Jahren reduziert, weil die Preise auf dem Markt gestiegen sind. Indien und China haben sich entwickelt und ihre Subventionen erhöht, auch weil sie ihre Position auf dem internationalen Markt stärken wollen.

Wie stehen Sie generell zu Agrarsubventionen? Muss man Lebensmittel anders betrachten als andere Produkte?

Lebensmittel sind keine Socken. Das hat nicht nur mit dem besonderen Stellenwert von Ernährung zu tun, sondern auch mit den Produktionsbedingungen. Eine Textilfabrik kann man einfach von einem Land in ein anderes verlegen, ein Feld nicht. Kommen die Socken nicht mehr gut an, kann man ein anderes Modell produzieren, bei Pflanzen ist das nicht so einfach. Es gibt also genügend rationale Gründe, Lebensmittel anders zu behandeln als andere Güter. Und es beeinträchtigt den freien Handel auch nicht sonderlich, wenn ein Land wie Österreich entscheidet, dass Kühe in den Bergen gehalten werden sollen und das unterstützenswert ist. Hohe US-Subventionen für die Baumwollindustrie haben dagegen fatale Konsequenzen für die afrikanischen Bauern. Das ist extrem unfair und ein riesiges Problem.

Macht freier Handel aus der Welt einen besseren Ort?

Freier Handel schafft faire Bedingungen. Man muss kein Ökonom sein, um zu verstehen, dass alle davon profitieren, wenn jeder sich auf das konzentriert, was er am besten kann. Aber natürlich ist freier Handel kein Allheilmittel, er benötigt eine Reihe von Voraussetzungen, die nichts mit der Öffnung der Märkte zu tun haben, etwa eine funktionierende Infrastruktur, soziale Sicherheit und natürlich Bildung. Oft werde ich gefragt, was die beste Handelspolitik ist. Und meine Antwort ist: Bildung.

Welche Folgen werden eigentlich die Russland-Sanktionen für den Welthandel haben?

Es gibt ein Ungleichgewicht: Die USA und die EU haben keine Handelssanktionen erlassen, sondern Finanzsanktionen, die international nicht geregelt sind. Das Handelsembargo, mit dem Russland darauf reagiert hat, betrifft dagegen einen Bereich, der von der WTO reguliert wird und höchstwahrscheinlich auch vor deren Streitschlichtungsorgan verhandelt werden wird. Der russische Importstopp betrifft zwar nur einen sehr kleinen Teil des Welthandels, aber natürlich wird er negative Auswirkungen haben. Länder handeln nicht aus diplomatischen Gründen miteinander, sondern weil sie beide davon profitieren. Das bedeutet: Die Sanktionen schaden nicht nur den russischen Handelspartnern, sondern auch Russland.

Laut französischen Medien könnte der nächste EU-Ratspräsident Pascal Lamy heißen.

Kein Kommentar dazu. Französische Medien berichten viel, da gibt es tonnenweise Gerüchte.

ZUR PERSON

Pascal Lamy war zwischen 2005 und 2013 Generalsekretär der Welthandelsorganisation (WTO). Zuvor war der 67-jährige Franzose EU-Kommissar für Außenhandel. Die WTO ging im Jahr 1995 aus dem GATT hervor. Zweck der Organisation ist, den globalen Handel zu erleichtern, indem Handelsbarrieren wie Zölle abgebaut werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2014)

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