László Andor: "Die EU zwingt keinen, überspendabel zu sein"

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Sozialtourismus ist kein echtes Problem, sagt EU-Sozialkommissar László Andor. Mit der "Presse" spricht er über Neid, Hysterie und hartnäckige Vorurteile in einzelnen EU-Ländern, die das Zusammenwachsen der EU erschweren.

Die Presse: Herr Andor, verdienen die Österreicher genug Geld?

László Andor: Ob sie genug verdienen? Das müssen die Sozialpartner diskutieren. Aber Österreich ist ein relativ reiches Land mit hohen Einkommen.

Ich frage, weil Sie Deutschland jüngst wegen seiner Lohnzurückhaltung hart kritisiert haben. Auch in Österreich sind die Löhne in den vergangenen zehn Jahren real nicht gestiegen.

Es gibt wachsende Ungleichheiten in der Eurozone, und die Abkoppelung der Einkommen von der Produktivität hat dazu beigetragen, die Eurozone zu destabilisieren. Das ist in Österreich nicht so sehr der Fall wie in Deutschland. Dort gab es einen Pakt, die Löhne niedrig zu halten. Das ist zu lange so gegangen. Dadurch wurde der Konsum und so das Wachstum untergraben. Darum waren wir für einen Mindestlohn in Deutschland. Das war in Österreich nicht notwendig.

Die meisten Länder der EU haben andere Probleme, wie die hohe Arbeitslosigkeit. Was muss passieren, um das zu ändern?

Die Nachfrage nach Arbeit muss angekurbelt werden. Österreich hat mit der Kurzarbeit gut auf die Krise reagiert. Andere Staaten konnten oder wollten sich das nicht leisten.

Sie machen sich ja auch für eine europäische Arbeitslosenversicherung stark, um diese Mittel in der EU umzuverteilen.

Dafür ist die europäische Arbeitslosenversicherung nicht gedacht. Sie ist als automatischer Stabilisator notwendig, um die Währungsunion langfristig zu sichern.

Da werden sich die EU-Skeptiker aber freuen, wenn es in den Medien heißen wird: Die reichen Länder müssen wieder die Rechnung der armen Staaten zahlen.

Ich glaube, die Menschen müssen verstehen, dass die Währungsunion ohne finanziellen Ausgleich nicht überleben wird. Die Eurozone war in der Krise bereits angezählt. Die Frage ist, ob die europäischen Länder mit dieser Unsicherheit leben wollen, dass jeder Wirtschaftsabschwung die Währungsunion gefährden kann. Um das zu vermeiden, braucht es nicht nur die Europäische Zentralbank, sondern auch die finanzielle Kraft, mit externen Schocks umzugehen.

Aber da sind die Spannungen doch vorgezeichnet. Schon als die Griechenland-Hilfen angelaufen sind, titelte der deutsche Boulevard: „Griechen, verkauft doch lieber eure Inseln!“

Das ist eine Frage der Solidarität. Die reichen Länder in der EU haben das wahre Ausmaß der Krise nie zu Gesicht bekommen. Da ist es natürlich schwierig zu erklären, warum es notwendig ist, einander zu helfen. Aber hätten wir diese europäische Arbeitslosenversicherung in den letzten zwanzig Jahren schon gehabt, hätte es auch Zeiten gegeben, in denen Spanien Nettozahler und Deutschland Nettoempfänger gewesen wäre.

Nimmt man den Regierungen so nicht den Druck, Arbeitsmarktreformen durchzuführen, wenn andere für sie bezahlen?

Strukturreformen sind notwendig, um langfristiges Wachstumspotenzial zu heben. Aber sie sind vollkommen ungeeignet, um auf kurzfristige Schocks zu reagieren. Dafür braucht man automatische Stabilisatoren. Die hat die Eurozone einfach nicht. Wenn wir in einer Währungsunion bleiben wollen, müssen wir einander helfen, um das Beste für alle zu erreichen.

Sind Europäer zu engstirnig, um das zu verstehen?

Es gibt viele ungerechtfertigte Stereotype. Wir müssen den Menschen erklären, dass die Euroländer ihre eigene Währungspolitik verloren haben und Ersatz brauchen, um mit kurzfristigen Schocks umzugehen.

Seit Anfang des Jahres ist der EU-Arbeitsmarkt offen für Rumänen und Bulgaren. Im Vorfeld gab es große Sorge vor einer Einwanderungswelle. War sie berechtigt?

Ich denke, es ist klar, dass es viele unbegründete Sorgen gab. In manchen Ländern wurden diese künstlich erzeugt. Etwa in Großbritannien, wo eine bestimmte Partei alles sagen würde, um die Briten aus der EU zu holen. Ganz egal, ob es mit der Realität zu tun hat oder nicht. Denn in Wirklichkeit waren die meisten Rumänen und Bulgaren, die in anderen Ländern arbeiten wollten, längst in Spanien oder Italien. Spanien hat zehn Mal mehr Rumänen als Großbritannien. Aber man hört Spanien nie darüber jammern. Natürlich gibt es Probleme. Aber die Hysterie, die wir gesehen haben, war sehr unangemessen und bedauerlich.

Ein anderes Reizthema ist der Sozialtourismus. Österreich, Deutschland, Großbritannien und die Niederlande fordern, dass sie EU-Bürger heimschicken dürfen, wenn die ihre Sozialsysteme ausnutzen.

Dieser Brief war eine Manifestation von echten Sorgen und Vorwahlgeplänkel. Deutschland hat kürzlich eine ernsthafte Studie dazu vorgelegt. Sobald es nicht mehr um Emotionen, sondern um Zahlen geht, sieht alles nicht so schlimm aus. Zudem gibt es eine Reihe an Möglichkeiten, restriktiv zu sein, ohne EU-Gesetze zu brechen. Die EU zwingt keinen, „überspendabel“ zu sein. Kein Land ist verpflichtet, Sozialleistungen zu gewähren, wenn die Menschen nicht arbeiten oder nicht lange genug im Land sind. Kein Mitgliedsland hat berichtet, dass es signifikanten Missbrauch des Systems gab. Schweden hat versucht zu zählen, wie viele Sozialtouristen existieren und fand laut einem ehemaligen schwedischen Minister acht. Hoffentlich kann sich Schweden das noch leisten.

Laut Sozialarbeitern in Wien streiten hier obdachlose Österreicher mit Ungarn um den Schlafplatz. Müsste man nicht in den Heimatländern ansetzen und Ungarn stoppen, Obdachlose einzusperren?

Es ist wahr, dass das ungarische Gesetz vermutlich das härteste in der ganzen EU ist. Aber das ist nationale Kompetenz. Der Druck auf diese Länder muss steigen. Aber es gibt kein EU-Gesetz, mit dem man sie zwingen könnte. Gleichzeitig können wir EU-Bürgern ihr Recht, von Ungarn nach Österreich zu kommen, nicht nehmen. Letztlich ist es immer noch eine gute Sache, dass es keine Grenzkontrolle und keinen Eisernen Vorhang zwischen unseren Ländern gibt.

ZUR PERSON

László Andor (geboren 1966) ist seit dem Jahr 2010 EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration. Der gebürtige Ungar hat in Budapest, Oslo und Washington Wirtschaftswissenschaften studiert und lehrte Ökonomie an mehreren Universitäten. Von 2005 bis 2010

war er Vorstandsmitglied der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. László Andor ist Politiker der ungarischen sozialistischen Partei MSzP und war Berater des ehemaligen Premiers Ferenc Gyurcsány.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2014)

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