Boliviens steuerfreie Cashcow

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In der Großstadt El Alto brummt zweimal wöchentlich der größte Straßenmarkt Lateinamerikas. Er macht Menschen reich und versorgt die ganze Stadt. Der Fiskus sieht von den Umsätzen nichts.

Pedro Mamani hat einen durchwachsenen Tag. „Diese Uhr ist von Casio, ein Original“, sagte er eben noch. 60 Bolivianos (rund sieben Euro) will er dafür. „Wenn es gut läuft, verkaufe ich zehn Stück“, sagt er. An einem schlechten Tag nur eine. Mamani, ein älterer Herr, dessen Kopf eine verwaschene Baseballkappe vor der Sonne schützt, zeigt auf eine andere Uhr, vermeintlich von Festina. „90 Bolivianos, ein Einzelexemplar. In El Alto läuft niemand mit dieser Uhr herum, damit sind Sie etwas Besonderes“, prahlt der braungebrannte Pedro Mamani, als sich eine Handvoll Leute um seinen Stand versammelt hat. Ein junger Mann legt sie sich um, überlegt.

El Alto, eine Großstadt im bolivianischen Altiplano, an einem Donnerstagnachmittag. Auf der Feria del Elto sind Verkaufsstände zu sehen, so weit das Auge reicht. Neben der freistehenden Vitrine von Pedro Mamani bietet eine ältere Frau auf einer Decke Unterwäsche an. Vier Paar Socken für vier Bolivianos (rund 50 Cent), Unterhosen für die Hälfte. Weiter vorne liegen Rohre, Holzplatten, Schuhe, Hosen, Rucksäcke, USB-Sticks. Auch Kloschüsseln sind zu haben, für 340 Bolivianos (rund 40 Euro), und sogar Autos.

Keine Ladentüren, Kassen oder Videoüberwachung. Und obwohl donnerstags weniger Besucher kommen als am Sonntag, ist die Feria del Alto ein Ameisenfeld. Auf 80.000 bis 100.000 Verkäufer wird die kilometerweite Fläche geschätzt, die sich in den letzten Jahren mit dem Boom ihrer Stadt El Alto ausgebreitet hat. Alles, was zum Leben nötig und unnötig ist, wird hier verkauft. Die „Feria“ ist der größte informelle Straßenmarkt Lateinamerikas.

Die Preise sind unschlagbar. Pedro Mamani gibt seinen Kunden keine Quittung, Standmiete zahlt er keine. Auf die Frage nach Steuern antwortet er mit einem Lächeln. Seine Kosten setzen sich nur aus seiner Zeit, seiner Vitrine und dem Einkauf zusammen. „Ich hatte nie Probleme mit dem Gesetz“, sagt Mamani. Kein Wunder: Hier schaut keiner so genau hin.

El Alto ist eine junge Stadt, wenige Jahrzehnte alt. Eine Million Menschen lebt in der Zwillingsstadt der langjährigen Hauptstadt La Paz. Als einst immer größere Teile der Landbevölkerung ihr Glück in der Stadt suchten, schwoll das auf 3600 Metern Höhe in einem Tal gelegene La Paz so sehr an, dass auf den angrenzenden Berghängen neue Backsteinbauten wie Pilze aus dem Boden schossen. So entstand El Alto. Ohne staatliche Strukturen verwalteten sich die neuen Bewohner der jungen Stadt selbst. Keine staatliche Autorität hebt hier Steuern ein, keine Staatsmacht sieht nach dem Rechten.

So wurde El Alto zu einer Handelsmetropole, die so bedeutend ist, dass Offizielle kapituliert haben und das Wuchern dulden. Wie viel Geld hier umgesetzt wird, weiß keiner. Rund ein Zehntel der Stadtbewohner verdienen auf dem Markt ihren Lebensunterhalt. Die Feria hat Leute reich gemacht. Nicht zuletzt dank der Geschäfte unter dem Tisch sind die Grundstückpreise in Teilen von El Alto höher als in La Paz. Pedro Mamani erzählt: „Vor vier Jahren habe ich noch die Hälfte umgesetzt. Heute mache ich 600 Bolivianos am Tag. Die Feria ist bekannter geworden, die Leute geben auch mehr aus.“

Boliviens Volkswirtschaft brummt seit Längerem. Als der Sozialist Evo Morales 2006 Präsident wurde, verstaatlichte er umgehend die Gasförderung. Mit dem Geld, das seither in die Staatskasse fließt, senkte er die Armutsquote von 38 auf 24 Prozent. Arm ist in Bolivien, wer weniger als 1,25 US-Dollar hat. Im Vorjahr wuchs die Wirtschaft um sechs Prozent. Nur Kolumbien wuchs in Südamerika schneller.

Aber Wachstum und Almosen verändern keine Strukturen, meint Ángel Zaballa. Der Ökonomieprofessor der Universidad Mayor San Andrés, der ältesten Universität Boliviens, kritisiert dies immer wieder: „Das Wirtschaftswachstum ist positiv, aber es schafft kaum feste Arbeitsplätze.“ Nur 15 und 20 Prozent der Beschäftigten haben eine fixe Anstellung. Das Ergebnis dieser Wirtschaftspolitik sieht man zweimal pro Woche in El Alto. Viel Konsum, aber kein Vertrauen in den Staat.

Der Markt, der auf der einen Seite nur durch die Backsteinbauten von El Alto begrenzt werden kann und auf der anderen durch den steilen, mit weiteren Häusern bebauten Hang Richtung La Paz, dient auch zur Geldwäsche. Boliviens informelle Wirtschaft ist mehreren Schätzungen zufolge mittlerweile ungefähr so groß wie das offizielle Bruttoinlandsprodukt: 30 Milliarden US-Dollar. In La Paz, 500 Höhenmeter tiefer, gilt die Feria del Alto als der anarchische Kapitalismus, der der sozialistischen Regierung eigentlich ein Dorn im Auge ist, aber gleichzeitig so viele Menschen ernähren muss.

„Die größte Herausforderung der Regierung ist es, richtige Arbeitsplätze zu schaffen“, sagt Ökonom Zaballa, der selbst manchmal auf der Feria einkauft. Gelingt das nicht, während die Wirtschaft Boliviens weiter wächst, dürfte sich auch der Schwarzmarkt weiter ausweiten. Längst wird auf diesem riesigen Markt nicht nur verkauft.

An kaum einem Ort Boliviens wird so oft von Taschendieben berichtet. Auch wenn keiner der Verkäufer etwas davon wissen will.

Bolivien

Zehn Millionen Einwohner hat Bolivien, die größte Stadt ist Santa Cruz de la Sierra. Zweitgrößte Stadt ist bereits El Alto. Bis 1985 galt El Alto als Stadtteil der früheren Hauptstadt La Paz. Doch El Alto, das immer mehr Teile der Landbevölkerung anzog, wuchs gigantisch schnell. 1992 zählt man 400.000 Einwohner, heute sind es mehr als eine Million.

Schattenwirtschaft.Im sozialistisch regierten Land gilt El Alto als kapitalistische Enklave, in der es weder staatliche Kontrolle noch Regulierung gibt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2014)

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