Experte: "Die globale Ungleichheit geht zurück"

(c) REUTERS (YUYA SHINO)
  • Drucken

Branko Milanović ist der Doyen der Ungleichheitsforschung. Der »Presse am Sonntag« verrät er, warum er lieber reich in einem armen Land wäre als umgekehrt. Und warum er selbst nicht sagt, wie viel Geld er hat.

Auf meine erste Frage bekäme ich in Österreich keine Antwort. Ich frage dennoch, weil Sie als Amerikaner vielleicht einen entspannteren Umgang mit dem Thema haben: Herr Milanović, wie viel verdienen Sie?

Branko Milanović: Das würde Ihnen in den USA auch niemand sagen. Aber wenn wir ernsthaft über Einkommensungleichheit und Armut sprechen wollen, sollten wir wissen, wo wir stehen.

Also, wie viel verdienen Sie?

Ich würde Ihnen lieber sagen, wo ich in der Einkommenspyramide stehe.

Und zwar?

Mein Haushalt liegt im zweiten oder dritten Prozent der reichsten US-Haushalte. Das heißt, global bin ich im obersten Prozent der Top-Verdiener. Dasselbe gilt für die reichsten zwölf Prozent aller Amerikaner und die reichsten acht Prozent der Europäer.

Sie forschen über Einkommensverteilung, seit Sie junger Wissenschaftler im sozialistischen Ex-Jugoslawien waren. Wie war das damals möglich? Ich dachte, Ungleichheit war damals von der Partei verboten.

Die Daten waren zwar da, aber es war politisch nicht erwünscht. Denn theoretisch war die Verteilung der Einkommen im Sozialismus ja ideal – es hätte nicht besser sein können. Warum also etwas erforschen, von dem jeder weiß, dass es perfekt ist? Dieser Zugang unterscheidet sich nicht so sehr von dem Zugang, den es bis vor zehn Jahren etwa in den USA gegeben hat. Da war es eben die Marktwirtschaft, in der Einkommen nach Leistung quasi ideal verteilt werden. In der Realität ist das freilich ganz anders.

Aber China und Indien haben dank Ihres Wachstums hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt. Ihre Studien sagen, dass die globale Ungleichheit zurückgeht. Das ist doch eine gute Nachricht.

Das sind natürlich gute Nachrichten für die Welt. Dank des massiven Wirtschaftswachstums in China sind Massen an Menschen zu einer Art Mittelklasse geworden. Nicht nach westlichen Maßstäben, aber doch. Erstmals seit der industriellen Revolution ist die globale Ungleichheit zurückgegangen.

Gibt es ein besseres Mittel als Wachstum, um Ungleichheit zu verringern?

Das ist schwierig, weil Wachstum unterschiedliche Effekte auf die Einkommensverteilung hat. Weltweit ist die Ungleichheit zurückgegangen, weil große und arme Länder stark gewachsen sind. Ich bin für Wachstum. Wachstum ist entscheidend für die Reduktion der globalen Ungleichheit. In den einzelnen Ländern passiert aber das Gegenteil. In derselben Zeit hat die Ungleichheit innerhalb der Staaten zugenommen. Es wird zwar fast jedes Land reicher, gleichzeitig steigt die innere Ungleichheit. Wenn es so weitergeht, sieht die Welt in 50 Jahren so aus wie damals, als Marx „Das Kapital“ geschrieben hat.

Ökonomen sagen, dass die Akkumulation von Kapital in der Marktwirtschaft notwendig ist, weil niemand investieren würde, wenn er keine höhere Rendite erwarten könnte als von Lohnarbeit. Ist das ein Problem, das im System liegt?

Die Konzentration von Kapital ist notwendig, damit Menschen investieren und die Wirtschaft wächst. Keynes und Hajek waren sich da einig. Allerdings auch darin, dass Geld nicht für Konsum und Luxus ausgegeben werden soll, weil das Geldverschwendung wäre. Hohe Einkommen haben eine Legitimation, weil sie für Investitionen gebraucht werden. Es gibt aber auch Rentiers, die vom Vermögen leben und gar nicht mehr arbeiten. Da kann man sich schon fragen, ob wir das in der Gesellschaft wollen. Da wäre eine Steuer natürlich eine Lösung.

Ähnliches fordert ja auch Thomas Piketty, der der Ungleichheitsforschung einen regelrechten Hype beschert hat. Kann man über Einkommens- und Vermögensverteilung sprechen, ohne Ideologien zu bemühen?

Auf einem rein akademischen Level kann man die Ideologie auslassen. Aber das bringt uns nicht sehr weit. Wir müssen fragen, ob die Verteilung der Einkommen optimal für das ökonomische Wachstum ist. Da können wir die Moral gern außen vor lassen.

Und wo liegt das ökonomisch perfekte Level an Ungleichheit?

Niemand weiß das.

Die absolute Gleichverteilung wird es nicht sein. Diese wäre ja auch erreicht, wenn alle nichts verdienen. Umgekehrt sind Unterschiede doch eine der wichtigsten Triebfedern der Menschheit.

Ein Land ohne Ungleichheit ist sicher nicht das Ideal. Da gibt es keine Anreize zu arbeiten, sich zu bilden, zu investieren. Umgekehrt sind hohe Level an Ungleichheit, wie wir sie in Lateinamerika oder Afrika sehen, ebenfalls dramatisch, weil sie das politische System aushöhlen. Es muss etwas dazwischen geben. Österreich ist ein gutes Beispiel. Es gibt zwar Zweifel, ob das oberste Prozent wirklich gut erfasst wird, aber es ist immer noch eines der neun Länder mit den geringsten Einkommensunterschieden.

Zurück zur globalen Ungleichverteilung: Wenn China gewinnt, wer verliert dann?

Die Verlierer sind die unteren Mittelschichten in den reichen Ländern Europas. Sie haben in den vergangenen zwanzig Jahren am stärksten verloren. Es gibt heute zwei Mittelschichten weltweit. Eine halbwegs reiche aus dem Westen, die langsam abbaut, und eine relativ arme in den asiatischen Schwellenländern, die zuletzt um 200Prozent gewachsen ist.

Wo liegt das größte Problem Europas?

In Westeuropa gibt es auch sieben Jahre nach der Krise noch kein echtes Wachstum. Das ist enttäuschend. Natürlich ist das Komfortlevel hoch, aber Menschen wollen immer mehr. Da kann man gar nicht dagegen sein. Wenn man die Einkommen heute mit jenen in den 1920ern vergleicht, stehen wir viel besser da. Aber Menschen vergleichen sich nicht mit der Vergangenheit, sondern schauen immer auf die, die es heute besser haben als sie selbst. Die ganze Idee von bedürfnisloser Gesellschaft und Leben ohne Wachstum überzeugt mich nicht. Wachstum ist notwendig. Sonst wären ja alle glücklich, dass ihre Einkommen nicht steigen. Wer ist das schon?

Wenn Sie wählen müssten: Wären Sie lieber arm in einem reichen Land oder reich in einem armen Land?

Ich wäre lieber reich in einem armen Land. Denn unsere Wahrnehmung von Armut und Reichtum hängt von der Umgebung ab, in der wir leben. Auch arme Menschen in reichen Ländern sind global gesehen relativ reich, fühlen sich aber arm. Da ist es besser, in einem armen Land reich zu sein.

Verteilung

Branko Milanović(60) ist US-Ökonom an der City University of New York und forscht auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Zuvor war der gebürtige Serbe leitender Ökonom in der Weltbank.
Naderer/European Forum Alpbach

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.