Der französische Patient

(c) Reuters (SHANNON STAPLETON)
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In der EU sieht Frankreich sich auf Augenhöhe mit Deutschland. Aber während Berlin rechtzeitig reformiert hat, reagiert Paris zu spät - und unzureichend. Das Ergebnis: Stagnation.

Wer nach handfesten Erfolgen der europäischen Integration sucht, wird auf der Liste der Auslandsreisen von Angela Merkel schnell fündig. 28 Mal war die deutsche Kanzlerin und mächtigste Frau in Europa im Laufe ihrer drei Amtszeiten schon in Frankreich zu Besuch. Die Perioden Nummer eins und drei wurden gar durch Antrittsbesuche in Paris eröffnet. Die viel zitierte „deutsch-französische-Freundschaft“ ist auch 70 Jahre nach der Invasion der Normandie der entscheidende Faktor für politische Stabilität auf dem Kontinent.

Aber jetzt, da Europa seit Jahren mit einer Finanzkrise zu tun hat, wird das Verhältnis komplizierter. Denn Frankreichs Wirtschaft kann mit „Kerneuropa“ nicht mithalten. Würden wir hier nicht über die „Grande Nation“ sprechen, die zweitwichtigste Säule eines geeinten Europas, wir würden Paris längst in einem Atemzug mit Rom, Madrid oder sogar Athen nennen. Können wir aber nicht, denn Frankreich zu kritisieren ist im wahrsten Sinne des Wortes „politisch unkorrekt“ in Europa.


Defizit bleibt. Das weiß natürlich auch Angela Merkel. Als der neue französische Ministerpräsident Manuel Valls vergangene Woche in Berlin war, kam ihr kein deutliches Wort der Kritik über die Lippe. Sie weiß aber schon, wie sie Frankreich am elegantesten ärgern kann. Mit subtilen Hinweisen auf die eigenen Erfolge. „Deutschland hat gezeigt, dass Konsolidierung und Wachstum gleichzeitig möglich sind“, sagte Merkel. Valls Botschaft an die Deutschen Wähler war schon konkreter: „Frankreich ist nicht das kranke Kind Europas.“ Der „Bild“-Zeitung war freilich egal, was politisch erwünscht ist. Sie titelte: „Frankreich flop, Deutschland top“.

In einem hat Valls natürlich recht: Frankreich ist kein Kind, das sich etwas vorschreiben lässt. Aber gesund ist der französische Patient ganz sicherlich nicht. Auch, weil der Regierung in Paris die europäischen Vorschriften nur dann wichtig sind, wenn man sie einfach erfüllen kann. Ansonsten werden sie einfach ignoriert. Beispiel Defizitziel. Die sozialistische Regierung von Präsident François Hollande wollte das Defizit heuer auf 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) senken. Eigentlich. Seit einigen Wochen aber wissen wir: Es wird damit nichts, wieder einmal. Die Regierung erwartet jetzt 4,4 Prozent Defizit und ein „Wirtschaftswachstum“ von 0,4 Prozent. Anders gesagt: Stagnation. Erst 2017 will man das Defizit auf unter drei Prozent gedrückt haben. Und bis dahin ist viel Zeit, das Ziel noch weiter nach hinten zu schieben.

Hier zeigt sich das Problem Frankreichs: Einerseits beschwert man sich lautstark über die von der EU (via Berlin) vorgeschriebene Sparpolitik – andererseits hält man sich ohnehin nicht daran und spart einfach nicht. Der Schuldenstand der Republik steht bei 95,8 Prozent des BIP. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die 100-Prozent-Hürde fällt, aber die französische Linke fordert weiterhin vehement ein „Ende der Sparpolitik“ und mehr Schulden. Was Wunder, dass der linke Präsident Hollande, der sich des Reformbedarfs natürlich bewusst ist, mit nur 17 Prozent Zustimmungsrate der unbeliebteste Präsident aller Zeiten ist. Sein konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy konnte zumindest noch mit rüpelhafter Law-and-Order-Politik punkten. Aber Hollande? Er kann es niemandem recht machen.

Nach einer Revolte in seiner Partei gegen ein 21 Mrd. Euro schweres Sparpaket musste er zuletzt sogar sein Kabinett neu aufstellen, um weitere Reformen überhaupt möglich zu machen. Schon jetzt häufen sich die Stimmen, die Hollande trotzdem zu einer „lahmen Ente“ erklären. Zu einem Chef, der bis ans Ende seiner Amtszeit kaum etwas Entscheidendes weiterbringen wird. Dabei braucht Frankreich dringend rasche Reformen – auch solche, die kurz wehtun.

Wie ernst die Lage wirklich ist, zeigt diese Episode: In der bezaubernden Kleinstadt Morlaix (Bretagne) steckten Bauern im Protest gegen den fallenden Lebensstandard kürzlich ein Büro der Steuerbehörden in Brand. Und das, obwohl die französischen Bauern zu den größten Nutznießern von Subventionen in der EU gehören.


Guter Wille. Und die Regierung? Die scheitert mit Sparvorhaben und setzt stattdessen Gesetzesvorhaben um, die schon ans Bizarre grenzen. So will man die Schließung von Fabriken in Zukunft einfach verbieten, wenn die Experten der Regierung den Standort für profitabel halten. Ob das die ohnehin schlechte Wettbewerbsfähigkeit verbessern kann? Wohl kaum. Die Abschaffung der quasi heiligen 35-Stunden-Woche würde das sicherlich schaffen. Aber ein derartiger Vorschlag des Finanzministers wurde sofort wieder verworfen. Nun, er hat es zumindest versucht.

Aber gute Absicht schlägt sich in den Zahlen nicht nieder. Die sind – gelinde gesagt – suboptimal. Zu hohen Defiziten und Staatsschulden kommt ein staatlicher Wirtschaftsanteil von 57 Prozent. Die Arbeitslosigkeit steht mit mehr als elf Prozent auf einem Rekordhoch. 3,4 Millionen Franzosen haben keinen Job. Die Regierung setzt jetzt auf den heiß debattierten „Verantwortungspakt“. Sie will Unternehmen um 40 Mrd. Euro entlasten und die Staatsausgaben um 50 Mrd. Euro senken.

Es ist Hollandes letzte Chance. Wenn es ihm nicht gelingt, das Ruder herumzureißen, wird die ökonomische Kluft zwischen Frankreich und Deutschland immer größer werden. Aber Hollande kann die Fehler der Vergangenheit nicht korrigieren. Während Deutschland sich nach der Euroeinführung durch die Reformen der Schröder-Regierung zukunftsfähig gemacht hat, ist Frankreich eher den italienischen Weg gegangen. Die Reallöhne sind in Frankreich seit 2000 fast dreimal so schnell gestiegen als in Deutschland. Früher hätte Paris einfach den Franc abgewertet. Aber jetzt müssten die Franzosen auf rund 20 Prozent ihrer Löhne verzichten, um wieder wettbewerbsfähig zu sein. Gesund ist das nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2014)

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