Deutschland: Rekordstreik führt aufs Abstellgleis

Vor dem Lokf�hrerstreik
Vor dem Lokf�hrerstreik(c) APA/dpa/unbekannt (unbekannt)
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Mit vier Tagen Streik zum Mauerfalljubiläum bringen die Lokführer alle gegen sich auf – vor allem die SPD, die um die Akzeptanz von Gewerkschaften bangt.

Wien/Berlin. Claus Weselsky soll angeblich stolz darauf sein, dass er keine Freunde hat. So liest man es zumindest in Porträts über „Deutschlands stursten Gewerkschafter“, die sich nun in deutschen Medien häufen. Alle wollen wissen, wie dieser Mann tickt, der so ziemlich alle gegen sich und seine Lokführer aufgebracht hat: die Bahnfahrer, die Deutsche Bahn, die konkurrierende große Gewerkschaft EVG, den Gewerkschaftsbund und Politiker fast aller Lager.

Den Deutschen stehen nämlich 100 Stunden Chaos bevor. Der störrische Sachse und seine GDL haben alle Kompromissangebote vom Tisch gewischt und den bisher längsten Bahnstreik der Geschichte ausgerufen. Von Donnerstagnacht bis Sonntagnacht stehen die meisten Personenzüge still. Der Bahngüterverkehr ist schon seit Mittwochnachmittag lahmgelegt. Dabei geht es im Kern nicht um mehr Lohn oder bessere Arbeitszeiten, sondern um einen Machtkampf mit der EVG-Konkurrenz.

Das empört besonders zwei Gruppen, von denen man es am wenigsten erwartet hätte. Zum einen die Berliner, die sonst auf kleinere Alltagskatastrophen mit viel Verständnis und Nachsicht reagieren. Doch an diesem Wochenende blickt die ganze Welt auf die Hauptstadt, die mit zwei Millionen Gästen den Fall der Mauer vor 25 Jahren feiert. Da richtet eine durchgehend stillstehende S-Bahn, das Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs, den größtmöglichen logistischen Schaden an.

100 Mio. Euro Schaden pro Tag

Zum anderen aber die SPD. Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die sonst stets im Gleichklang mit den Gewerkschaften marschieren, finden besonders harsche Worte. „Weselsky verliert gerade jedes Maß“, ärgert sich Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Fraktionschef Thomas Oppermann legt nach: „Die GDL nervt ganz Deutschland.“ Und Parteichef Sigmar Gabriel wirft der GDL gar einen Missbrauch des Streikrechts vor. Dahinter steht die Angst, dass die Gewerkschaften generell an Akzeptanz in der Bevölkerung verlieren. Mehr noch: Sollte sich Weselsky mit seiner brachialen Alles-oder-nichts-Strategie durchsetzen, dürfte sein Beispiel rasch Schule machen. Die Gewerkschaften würden sich wohl gegenseitig einen Wettbewerb um die härteste Gangart liefern. Damit aber geriete die deutsche Sozialpartnerschaft, durch die lückenhafte Tarifabdeckung ohnehin weniger zementiert als in Österreich, in ernste Gefahr.

Gabriel, immerhin auch Wirtschaftsminister, forderte am Mittwoch einen Schlichter, um volkswirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Denn ab drei Tagen Bahnausfall stockt vor allem in der chemischen und der Automobilindustrie die Produktion – was bis zu 100 Mio. Euro pro Tag kosten kann. Die Deutsche Bahn griff den Ball auf und bot der GDL eine Schlichtung an – bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe ohne Erfolg. Weiter kann die Bahn kaum gehen. Denn akzeptiert sie die Forderungen der Lokführer, macht sie sich die viel größere EVG zum Feind. Die Bahn ist in einer starken Position, weil den Streikenden der Wind der öffentlichen Meinung ins Gesicht bläst. Die GDL dürfte sich also auf ein Abstellgleis manövrieren. Dann bliebe den Lokführern nur der Ausweg, Weselksy zu stürzen und durch moderatere Verhandler zu ersetzen – was ihnen viele Zeitungskommentare nahelegen. Für diesen seinen Fall hat Weselsky die Schuldigen schon gefunden: die Medien, die mit ihrer „Hetzkampagne gegen ehrenwerte Berufe“ die Lokführer „in die Nähe von Terroristen gestellt haben“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2014)

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