Wie kaputt ist Deutschland?

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Mit seiner These einer gewaltigen Investitionslücke hat DIW-Chef Fratzscher viel Wirbel gemacht und europäische Begehrlichkeiten geweckt. Doch sie steht auf wackligen Beinen.

Vor Reisen nach Deutschland ist dringend abzuraten: Zu diesem Schluss muss kommen, wer regelmäßig den „Spiegel“ liest. Beim großen Nachbarn „klaffen die Schlaglöcher“, „bröckeln die Brücken“, „rosten die Maschinen“ und „verfallen die Fabriken“. Europas Vorzeige-Volkswirtschaft „lebt von der Substanz“ und „spart sich kaputt“. Das führe zur „massiven Verarmung des Landes“, lautet das verbitterte Fazit des tonangebenden Nachrichtenmagazins. Also wohl besser zu Hause bleiben, im schönen, reichen Österreich.

Hinter den apokalyptischen Befunden stehen Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Der junge DIW-Leiter, Marcel Fratzscher, ist das Marketinggenie unter den deutschen Ökonomen. Mit seiner aufrüttelnden These von einer gewaltigen Investitionslücke hat er es bis zum Berater von SPD-Wirtschaftsminister Gabriel gebracht. Sein Thema zieht europäische Kreise: Vor allem Frankreich erhofft sich von einem massiven Investitionsprogramm in Deutschland heilende Impulse für seine chronisch kränkelnde Wirtschaft.

Große Lücke? Die Analyse, die Fratzscher seit eineinhalb Jahren trommelt: Die Investitionsquote ging seit 1999 von 20 auf 17 Prozent der Wirtschaftsleistung zurück. Im Schnitt der Eurozone lag sie im gleichen Zeitraum drei Prozentpunkte höher. Damit sei jedes Jahr ein Prozentpunkt Pro-Kopf-Wachstum verloren gegangen. Stattdessen klaffe eine Lücke von jährlich 75 Milliarden, die durch ein gewaltiges „Investitionspaket“ zu füllen sei.

Da tauchen Fragen auf. Warum liegt dieses ruinöse Deutschland im Infrastruktur-Ranking des Weltwirtschaftsforums immer noch an erster Stelle aller Flächenstaaten? Skeptisch stimmt auch, dass 91 Prozent der Investitionen und ihrer Lücke den privaten Unternehmen zuzurechnen sind. Warum sollte der Besitzer einer Firma seine Maschinen verrosten lassen oder bei der Software auf den neuesten Stand verzichten? Wohl wissend, dass er damit nicht wettbewerbsfähig bleibt, sich also die Zukunft verbaut? Intuitiv möchte man meinen, die Akteure wüssten selbst am besten, wann, wie viel und wo sie investieren. Wer nicht tiefer eindringt, greift stattdessen nach Erklärungen, die in die Irre führen. Oft heißt es: Die Unternehmen investieren wegen der „Unsicherheit“ zu wenig – wegen der Eurokrise, Putins oder der Politik der Großen Koalition. Aber das kann nur einen kurzfristigen Aufschub erklären, kaum einen Trend über 15 Jahre. Bleibt das „Wo“. Freilich haben viele große Unternehmen in China, Brasilien oder Osteuropa gebaut. Aber gerade sie investieren typischerweise auch viel am heimischen Standort.

Eine langfristige Betrachtung zeigt: Die Investitionsquote geht schon seit den späten Sechzigerjahren tendenziell zurück. Das ist auch plausibel: Nach dem Krieg war der Aufholbedarf im zerbombten Deutschland enorm. Aber die Dynamik flacht sich naturgemäß ab: Das Netz an Autobahnen und Fabriken wird so dicht, dass für rentable Erweiterungsinvestitionen nicht mehr viel Raum bleibt. Zudem investieren die Deutschen immer effizienter.

Anders in Staaten, die später aufholten, wie Spanien nach dem Ende der Diktatur oder Osteuropa nach dem Fall des Kommunismus. Oder in der Ex-DDR – was uns zur eigentlichen Tücke mit der Lücke führt. Die DIW-Studien legen ihren Analysen die gesamten „Anlageinvestitionen“ zugrunde. Für das Potenzialwachstum entscheidend sind aber nur die „Ausrüstungsinvestitionen“ der Firmen, ergänzt um Infrastrukturbauten des Staates. Mehr als die Hälfte der Investitionen aber macht der private Bausektor aus. Und hier gibt es keinen stetigen Trend, sondern heftige Konjunkturen. Nach der Wende haben die Deutschen auf Teufel komm raus gebaut. Auf diese Übertreibungen folgte in den Nullerjahren eine Flaute. Just in dieser Phase haben andere Eurostaaten, besonders Spanien und Irland, heftig übertrieben. Dass dieser verrückte Bauboom gerade kein nachhaltiges Wachstumspotenzial schuf, hat sich nach dem Platzen der dortigen Blasen eindrucksvoll gezeigt.

Betrachtet man sinnvollerweise nur die Ausrüstungsinvestitionen, decken sich die Kurven Deutschlands, des restlichen Euroraums und der USA. Zählt man Forschung und Entwicklung dazu, haben die Deutschen sogar deutlich mehr zukunftsrelevant investiert als die anderen. Damit fällt die ganze These von der gigantischen Investitionslücke zusammen wie ein nicht prompt serviertes Soufflé.

Kleine Lücke. Sie ist auch nicht ohne Widerspruch geblieben. Schon in ihrem vorigen Jahresgutachten haben die Fünf Wirtschaftsweisen, als Beratergremium der Regierung die oberste Instanz der Zunft, die Nase über die Methodologie der Studie gerümpft. In ihrem aktuellen Gutachten, das sie am Dienstag Kanzlerin Merkel übergeben haben, widerlegen die Wirtschaftsweisen die These dieser Tage auf sieben Seiten. Schon im September haben die hauseigenen Ökonomen der Deutschen Bank ganz ähnlich argumentiert.

Was auch diese Kritiker zugestehen, ist eine kleinere Lücke des Staates. Durch fehlende Sanierungen hat sich sein Kapitalstock seit 2003 verringert. Der Grund: Neue soziale Wohltaten bringen mehr Wählerstimmen als etwa die Sanierung einer Brücke, die viel kostet, während der Baustellenzeit die Autofahrer ärgert und deshalb so lang wie möglich hinausgezögert wird. Um diese Lücken rechtzeitig zu schließen, sollte die Regierung laut Deutscher Bank vier bis sieben Milliarden pro Jahr zusätzlich investieren. Das passt zusammen mit den zehn Milliarden von 2015 bis 2017, die das Kabinett Merkel vor Kurzem beschlossen hat.

Das sollte reichen. Es ist aber viel zu wenig, um die Konjunktur in der Eurozone zu beleben. Was aber, wenn die Deutschen doch viel mehr Geld in die Hand nehmen? Sie würden es wohl so einsetzen, dass es sie noch wettbewerbsfähiger macht. Nach der Lohnzurückhaltung könnte dann eine überlegene Kapitalausstattung den Anpassungsdruck auf die Peripherie erhöhen – und Deutschland würde nicht als Retter gelobt, sondern wieder einmal als unsolidarischer Streber gehasst.

In Zahlen

17Prozent
der deutschen Wirtschaftsleistung entfallen auf Sachinvestitionen. Vor 15 Jahren waren es noch 20 Prozent.

75Milliarden
pro Jahr müssten Privat- und Staatssektor laut DIW jährlich mehr investieren, um eine Lücke zu den anderen Euroländern zu schließen.

1,75Prozentpunkte
über den Quoten der restlichen Eurozone und der USA liegt Deutschland bei jenen Investitionen, die für das Wachstum besonders relevant sind: Ausrüstung, Forschung, Entwicklung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2014)

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