Der nette Schrecken der Steueroasen

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Ein erst 28-jähriger französischer Ökonom macht Furore mit einem Buch, in dem er der Steuerflucht der Superreichen keck den Kampf ansagt. »Die Presse am Sonntag« hat den Piketty-Schüler Gabriel Zucman in London besucht.

Ein Bild wie aus einem Harry-Potter-Roman: Der Rasen ist auch im Winter saftig grün. Uni-Mitarbeiter spielen Tennis auf den Lincolns Inn Fields, einer ruhigen Ecke mitten in der britischen Hauptstadt. Das ehrwürdige Backsteingebäude, das zur London School of Economics gehört, zieren Türmchen und Erker in verspielter Tudor-Gotik. Viel Fantasie braucht es nicht, um sich nach Hogwarts versetzt zu fühlen, auf den Campus der imaginären Schule für angehende Zauberer. Freilich wird hier, an einer der prestigeträchtigsten Universitäten der Welt, nicht auf Besen geritten, sondern ernsthaft geforscht.

Doch seit einigen Monaten arbeitet an diesem Ort ein junger Assistenzprofessor, dessen Aufstieg etwas durchaus Märchenhaftes hat: Gabriel Zucman, ein erst 28-jähriger Pariser Ökonom. Anfangs Schüler, nun Forschungspartner von Thomas Piketty. Vor allem aber: der Autor eines Buches über Steueroasen, das in Frankreich ein Bestseller ist, vor einigen Monaten auf Deutsch erschien und gerade in zwölf weitere Sprachen übersetzt wird.

In „La richesse cachée des nations“ („Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird“) rechnet Zucman mit einer verblüffend simplen Methode vor, wie viel Geld die Superreichen dieser Welt durch das Bankgeheimnis vor dem Fiskus ihrer Heimat verstecken. Und er erklärt erfrischend unbekümmert, wie einfach es in Wahrheit sei, Steueroasen in die Knie und die globale Vermögenselite zur Steuererklärung zu zwingen – fast wie mit dem Zauberstab: durch Strafzölle, ein globales Wertpapierkataster und eine weltweite Vorabvermögensteuer. Einfach und populär genug, um sich viele Leser zu sichern, seriös genug, um sich gegen vernichtende Kritik von Kollegen zu wappnen.

Krugman als Zugpferd. Richtig losgehen dürfte es mit dem Ruhm im Herbst, wenn die englische Ausgabe erscheint. So war es bei Doktorvater Piketty. Wieder dürfte Paul Krugman die Werbetrommel auf dem angelsächsischen Markt rühren. Einen Vorgeschmack hat der Nobelpreisträger schon geliefert: „Zucman lehrt uns etwas sehr Wichtiges darüber, wie die Welt wirklich funktioniert“, jubilierte er in seinem Blog nach einem mittäglichen Gedankenaustausch bei Salat und Burger in New York. Nüchterner betrachtet gehört Zucman zur Gruppe der jungen französischen Wilden, die in ihrer Zunft eine neue, leicht nach links gebürstete Agenda etablieren wollen. Ihre größte Sorge ist eine wachsende Ungleichheit der Vermögen, ihr Rezept sind Reichensteuern.

Vorerst hält sich der Jungstar lieber im Hintergrund. An der LSE, wo er auch Vorlesungen hält, belegt er ein schmales Kämmerchen ohne Telefon. Seine Thesen und Drohungen trägt Zucman so kultiviert und dezent lächelnd vor, als wollte er sich vor den wenig geschätzten Steuersündern noch höflich verneigen. Am Anfang stand die Neugier: „Ich wollte einfach besser verstehen, warum hunderte Milliarden verschwinden, was erlaubt ist und was nicht.“ Kein Thema für seine Kollegen: „Den meisten geht es um abstrakte Theorien, nicht um konkrete Zahlen und Maßnahmen.“ Vier Jahre lang beackerte er sein weites Feld, durchwühlte Archive und filterte Zahlen. Heraus kamen eine Dissertation und die „popularisierte“ Kurzfassung fürs breite Publikum. Zucman versucht als erster Wissenschaftler, das Volumen der weltweiten Hinterziehung abzuschätzen. Dafür genügen ihm freilich keine Einzelfälle, von Uli Hoeneß bis Alice Schwarzer, keine Daten-CDs und keine Listen mit Selbstanzeigen. Er muss ganz oben ansetzen, bei aggregierten Kapitalflüssen. In der Regel nutzen Ausländer die Steueroasen als internationale Finanzplätze. Sie investieren nicht vor Ort, sondern über ein anonymes Konto in Wertpapiere von Drittstaaten. Nur diese Mittel zieht Zucman in seiner Analyse als „Offshore-Vermögen“ in Betracht. Wie wirkt sich dabei das Bankgeheimnis in den Vermögensbilanzen der Staaten aus?

Ein Beispiel: Ein Österreicher hat ein Depot mit Apple-Aktien bei einer Schweizer Bank. Wenn ein US-Ausländer einen Anteil an der US-Firma kauft, scheint das in der Vermögensbilanz Amerikas auf der Passivseite auf, als Verbindlichkeit. Ihr müsste ein Aktivposten einer fremden Notenbank gegenüberstehen. Das ist aber nicht der Fall. Zu Recht in der Schweiz, für die es nur um einen Durchlaufposten geht. Zu Unrecht in Österreich: Die OENB müsste eine Forderung an die USA verbuchen. Kann sie aber nicht, weil sie von dem Aktienbesitz des heimischen Staatsbürgers gar nichts weiß – durch das Schweizer Bankgeheimnis.

Tücken bei den Lücken. Tatsächlich gibt es in den konsolidierten Vermögensbilanzen mehr Passiva als Aktiva. Die Lücke beträgt 4800 Mrd. Euro – womit für Zucman das „versteckte“ Vermögen an Wertpapieren beziffert ist. Dazu kommen noch 1000 Mrd. an Cash, in Summe also ein Offshore-Vermögen von 5,8 Billionen. Ist dieser Ansatz zulässig? Was reale Unternehmen vor Ort oder Pensionsfonds investieren, steckt in diesen Zahlen korrekterweise nicht drin. Clemens Fuest, Chef des ZEW in Mannheim und selbst Experte für Steueroasen, weist jedoch auf eine Unschärfe hin: „Manche Investitionsvehikel, die Steuerhinterzieher verwenden, werden auch von Banken genutzt, aus anderen Gründen“ – wie Kapitalgesellschaften in Steueroasen, die als Investmentfonds dienen.

Heikler ist der zweite Schritt der Analyse: Zucman stellt sich die Frage, wie viel von den 5,8 Bio. Euro tatsächlich im Herkunftsland nicht versteuert sind. Hier helfen keine Makrobilanzen. Der einzige Anhaltspunkt: Europäer mit Schweizer Konten können ihr Vermögen entweder zu Hause deklarieren oder anonym bleiben und sich eine Quellensteuer von 35 Prozent auf Zinsen abziehen lassen. 80 Prozent der Kunden halten sich lieber bedeckt. Diese hält Zucman für Steuerflüchtige.

Und er setzt diesen Anteil beim gesamten Offshore-Vermögen an. Macht dann 4700 Mrd. Euro, die weltweit nicht deklariert wären. Dass er die Hypothese auf alle Steueroasen erweitern muss, hält der Forscher selbst für „problematisch“. Aber er beharrt darauf, dass seine Größenordnung stimmt: „Sollen hinter dem Offshore-Vermögen 70 Prozent Steuersünder stehen oder auch 90, aber sicher nicht 40.“

Revolutionsprophylaxe. So kommt er auf die Beträge, die dem Fiskus angeblich entgehen: 130 Mrd. Euro pro Jahr. Mehr als genug Geld, um die Haushalte in der Eurozone zu sanieren, wie Zucman in seinem Buch betont. Doch im Gespräch schwächt er ab: „Man darf das Ausmaß der Steuerhinterziehung nicht übertreiben. Nur ein Prozent der Einnahmen gehen dem Fiskus verloren. Das ist nicht monströs viel. Die reichen Länder machen da schon einen guten Job.“ Es gehe ihm um etwas anderes: den sozialen Zusammenhalt, der zerreißt, wenn die Konzentration der Vermögen massiv zunimmt – durch eine kleine Schicht Superreicher, die ihren gesellschaftlichen Beitrag verweigern. Aber tun sie das wirklich?

In einem Aufsatz erwähnt Zucman selbst, dass in den USA die 0,1 Prozent Bezieher der höchsten Einkommen mit 200 Mrd. Dollar 16 Prozent zum Einkommensteueraufkommen beitragen – also nicht gerade wenig. Würde man auch ihr Offshore-Vermögen besteuern, wären es knapp 19 Prozent – also nicht spektakulär viel mehr. Und das soll eine drohende Revolution verhindern? Zucman wie auch Fuest verweisen auf die besondere Situation der USA: Einzelpersonen hinterziehen dort wegen der strengen Strafen vergleichsweise wenig Steuern. In der EU könnte die Steuerflucht der Superreichen also größere Ausmaße haben. Vielleicht auch, meint Zucman, weil die Schweiz näher liegt – mit 30 Prozent Anteil an den Offshore-Vermögen immer noch die Steueroase Nummer eins. Aber ist sie nicht mittlerweile gezähmt, durch Quellensteuer, Datenaustausch und Erfolge deutscher Fahnder? Zucman hält sich nicht an Schlagzeilen, sondern an die Statistik der Schweizer Nationalbank: Von 2009 bis Herbst 2013 stieg das in der Schweiz gebunkerte Offshore-Vermögen um 14 Prozent; seitdem immer noch um zwei Prozent.

Wie passt das zusammen? Für Zucman haben sich die Schweizer Banken nur der „kleinen Fische“ entledigt, die ihnen „mehr Sorgen als Gewinn bringen“. Mehr als kompensiert habe das die Dynamik bei den Superreichen. Sie haben nicht einfach ein Konto, sondern Briefkastenfirmen – und entziehen sich damit weiterhin dem Zugriff. Dazu braucht es freilich Konstruktionen mit mehreren Briefkästen in mehreren Ländern. Das erfordert nicht nur diskrete Banker, sondern auch Berater, Anwälte, Wirtschaftsprüfer, Notare. Ein Aufwand, der sich nur für wirklich große Vermögen lohnt, ab einer Grenze, die Zucman bei 20 bis 50 Mio. Euro zieht. Für diese „boomende“ Zielgruppe bleiben Schweizer Banken ideale Partner. Sie haben Töchter in Singapur, Hongkong und anderen Oasen, in die sich Mittel per Knopfdruck verschieben lassen. Und sie machen sich, sagt Zucman, für diese Kunden weiter zum Komplizen. Der Franzose traut ihnen nicht: „Es sind dieselben, die seit Jahrzehnten zur Steuerflucht verhelfen. Sicher gibt es viele anständige Banker, die sich an geänderte Gesetze halten. Aber es gibt auch diese Kultur, in der Profit mehr zählt als alles andere.“

Erfolg der OECD. Damit kann er sich auch über Fortschritte nicht ungetrübt freuen: Die OECD hat den automatischen Datenaustausch zum Standard der Industriestaaten ab 2018 erhoben, „etwas, was sie selbst noch vor wenigen Jahren als utopisch abgetan hat“. Ein „erstaunlicher Erfolg“, wie auch Fuest bestätigt. Aber Sanktionen sind keine vorgesehen. Bei Strohmann-Konstruktionen deckt der Datenaustausch nicht automatisch den Letztempfänger auf. Und für Zucman reicht es nicht, Schweizer oder Luxemburger Banker „höflich um Mithilfe zu bitten“.

Womit wir bei den Maßnahmen wären, mit denen er Steueroasen austrocknen will. Der erste Schritt: zur Kooperation zwingen, durch Androhung von Strafzöllen. Denn eines haben diese Länder gemein: „Sie sind Riesen auf dem Finanzmarkt, aber Zwerge im Handel.“ Im globalen Rahmen gelte das auch für die Schweiz. Der Tüftler rechnet vor: Es müssten sich nur Deutschland, Frankreich und Italien zusammentun und 30 Prozent Zoll auf Schweizer Exporte androhen – schon würden die Eidgenossen einknicken.

Tatsächlich wird die Bedeutung der potenziellen Steuerhinterzieher für die Schweizer Volkswirtschaft meist überschätzt: Dieser Teil des Privatkundengeschäfts ihrer Banken macht nur zwei bis drei Prozent des BIPs aus. Wie „Die Presse“ aus Schweizer Regierungskreisen weiß, ist die Volkswirtschaft darauf vorbereitet, den Wegfall dieses Geschäfts in wenigen Jahren in anderen Sektoren vollständig zu kompensieren. Womit Zucmans Drohkulisse auf den zweiten Blick realistischer erscheint als auf den ersten. Ungleich schwieriger ist der Fall Luxemburg, immerhin ein Gründungsmitglied der EU mit ihrem freien Warenverkehr. Die generelle Krux: Man müsste sämtliche Steueroasen zur Mitarbeit zwingen – im Extremfall könnte sonst eine einzige als Hafen aller Steuersünder dienen.

In einem zweiten Schritt möchte Zucman, nach einer Piketty-Idee, ein globales Wertpapierkataster als Kontrollinstanz einführen. In Teilen existiert es schon, beim Internationalen Währungsfonds und privatwirtschaftlich bei Clearstream in Luxemburg. Man müsste die Daten nur kombinieren und ergänzen. Fuest hat dagegen vor allem juristische Bedenken: „Wir denken nur an demokratische Rechtsstaaten. Aber damit hätten auch Diktaturen Zugang zu Vermögensdaten ihrer Einwohner.“

Vollends utopisch, wenn auch intellektuell charmant, erscheint der dritte Schlag, zu dem Zucman ausholt: Der IWF solle jedes Jahr von allen erfassten Werten zwei Prozent einstreifen. Das würde aber nicht die Steuerhoheit der Staaten einschränken: Sie hätten die Möglichkeit, sich diese Beträge zu holen und den Besitzern zu refundieren. Vorausgesetzt – und hier liegt die Pointe –, dass sich diese Besitzer melden und damit ihr Vermögen deklarieren. Dennoch: Eine Einigung aller Länder auf ein solches Manöver wird es kaum geben. „Man muss die Kirche im Dorf lassen“, empfiehlt Fuest. „Wer das Heil in einer Art Weltregierung sieht, wird scheitern.“ Der skeptische Zucman-Kollege setzt lieber auf mehr Quellensteuern: „Das ist leichter umsetzbar, als den Vermögen hinterherzurennen, und praxistauglicher als Träume von einer Weltsteuer.“

Wer sind die Sünder? Für Zucman freilich ist Gelassenheit keine Option. Den sozialen Frieden zu retten duldet keinen Aufschub. Freilich wirft das Bild jener, die ihn bedrohen, letzte Fragen auf: Was sind das für Leute, diese Ultrareichen mit der kriminellen Energie? Der Leser von Zucmans Buch denkt zwangsläufig an Börsenspekulanten oder reiche Erben monetärer Schätze. Doch das „Finanzvermögen“, der viel gescholtene Treiber der Ungleichheit, enthält auch die größeren Anteile an „echten“ Unternehmen, bis hin zu den Familienbetrieben des Mittelstands – jene Werte, die auch die meisten Ökonomen bewahrt wissen wollen. Umso mehr, als sich diese Vermögen eben nicht per Knopfdruck in Briefkästen auf karibischen Inseln verschieben lassen. Sollten die 5,8 Bio. Euro stimmen, gilt es also, das Wissen über die großen Steuersünder und ihre Vermögen zu mehren – ein neues Thema für den nächsten Jungstar.

„Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird“ von Gabriel Zucman. 118 Seiten, verlegt bei Edition Suhrkamp.

Steueroasen

Die Schweiz ist mit 30 Prozent Anteil immer noch die wichtigste Steueroase. Singapur und Hongkong holen auf.
Cayman Islands und Bermudas ziehen die Amerikaner magisch an. Irland und Luxemburg dienen multinationalen Konzernen zur (noch) legalen „Steueroptimierung“. Liechtenstein und Monaco sind ökonomisch weniger relevant.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2015)

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