Die neue Ukraine am Bosporus

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Russland will den über die Ukraine laufenden Gasexport nach Europa künftig über die Türkei fließen lassen. Von dort solle die EU das Gas selbst abholen. Die EU ist irritiert, die Türkei reibt sich die Hände.

Wenn die Entscheidungsträger der Putin-Ära in Russland etwas zur Meisterschaft getrieben haben, so die Fähigkeit, mit einer unerwarteten Wendung ihr Gegenüber zu irritieren. Ihr Lehrmeister selbst, Kremlchef Wladimir Putin, ist darin unübertroffen. Aber auch seine engsten Weggefährten stehen ihm darin kaum noch nach. Alexej Miller etwa, der Chef des Gaskonzerns Gazprom, schien es sichtlich zu genießen, als er Mitte Jänner den EU-Vizepräsidenten für die Energieunion, Maroš Šefčovič, darüber informierte, dass Russland ab 2020 den bisher über die Ukraine laufenden Gasexport nach Europa einstellen und stattdessen über die Türkei durchführen werde.

Schon im Dezember hatte Putin selbst kundgetan, dass Russland das 40Mrd.Dollar teure Pipelineprojekt South Stream, das ebenso der Umgehung der Ukraine dienen und ein Gasvolumen von 63 Mrd. Kubikmetern durch das Schwarze Meer bis nach Wien leiten sollte, abgesagt hat. Millers Türkei-Schwenk war dann nur die logische Fortsetzung.

Weg von der Ukraine, weg auch von South Stream, stattdessen alles über die Türkei – so sieht die Reaktion der Russen darauf aus, dass die EU für South Stream die Einhaltung der EU-Regeln – darunter den Zutritt für Drittlieferanten – gefordert hatte. In gewisser Weise freilich kam die Opposition der EU den Russen auch entgegen, lässt doch die Wirtschaftskrise in Putins Reich den Bau von South Stream kaum rechtfertigen, zumal Pipelines zum neuen Absatzmarkt China ebenso erst errichtet werden müssen. Und so rosig sieht es bei Gazprom auch nicht aus: In den ersten neun Monaten 2014 ging der Gewinn um 35 Prozent auf 556Mrd. Rubel (7,2 Mrd. Euro) zurück. Nicht nur der Rubelverfall ist daran schuld, sondern eben auch die Verwerfungen mit der Ukraine, die außerdem Milliardenkompensationen von Gazprom eingeklagt hat.

Die Türkei ist das neue Mantra: „Turkish Stream ist nun die einzige Pipeline“, so Miller: „Unsere europäischen Partner sind darüber informiert, und ihre Aufgabe ist es jetzt, die nötige Transportinfrastruktur ab der türkisch-griechischen Grenze zu bauen.“

Mit einem solchen Schwenk hat die EU sichtlich nicht gerechnet. „Die EU ist schockiert über diese Idee“, erklärt Frank Umbach, Forschungsdirektor am European Centre for Energy and Resource Security (EUCERS) des King's College in London, auf Anfrage.

Paradigmenwechsel. Bisher ist es ja so, dass Gazprom das russische Gas über Gazprom-Pipelines in die EU liefert. Nun plötzlich soll es nur noch bis zu einem Hub in die Westtürkei fließen, von wo die Europäer den Weitertransport selbst organisieren müssen?

In einer ersten Reaktion neigte man in EU-Ämtern dazu, von Bluff zu sprechen. „Was Russland am Bosporus betreibt, ist ein politisches Theater“, heißt es auch aus den Reihen der Internationalen Energieagentur in Paris hinter vorgehaltener Hand. Dennoch setzt die EU eine Arbeitsgruppe ein. „Auch wenn das Thema ohne Not und aus Trotz aufgebracht wurde, muss man es ernst nehmen“, sagt der heimische E-Control-Chef, Walter Boltz, im Gespräch: „Denn eigentlich ist es das, was wir wollten – dass nämlich auch das russische Gas gleich wie das norwegische bis zur EU-Außengrenze geliefert und vielleicht von einem kollektiven Einkäufer abgenommen wird.“

Das macht die Sache freilich wirtschaftlich noch nicht per se sinnvoller. Schließlich würde der Gaszukauf an der türkisch-griechischen Grenze teurer als über den ukrainischen Transit, da die Russen die Baukosten für Turkish Stream ja hereinspielen wollen. Dies übrigens vor dem Hintergrund, dass das russische Gas schon jetzt teurer ist als das auf Spotmärkten gehandelte. „Die EU hat ein strategisches Interesse daran, die Gaspreise zu reduzieren, um so ihre Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Wirtschaft nicht zu gefährden und die ohnehin schleichenden Tendenzen einer Deindustrialisierung zu fördern, da die Gaspreise in Europe drei bis vier Mal so hoch sind wie in den USA“, so Umbach: Im Übrigen würde man mit einer Umgehungspipeline die Ukraine schwächen, und irgendjemand müsse ja die Anschlusspipeline aus der Türkei nach Europa bauen und finanzieren.

Das sei freilich so unmöglich nicht, entgegnet Boltz: „Die nötigen zwölf bis 15 Mrd.Dollar wären aufzubringen. Aber wenn Europa schon eine Anschlusspipeline legen soll, wäre es sinnvoller, sich mit den Russen etwa auf Bulgarien als Gasübergabepunkt zu einigen und nicht auf die Türkei.“

Umgarnte Braut. Allemal auffällig, wie unbedarft die Russen der Türkei gegenüberstehen und nach ihren schlechten Erfahrungen mit der Ukraine mögliche künftige Instabilitäten für den Transit am Bosporus ausblenden. Schon wird aktiv mit türkischen Regierungsvertretern verhandelt. Zwar steht man bisher erst bei einer Absichtserklärung, aber diese Woche wurde immerhin die Route durch das Schwarze Meer festgelegt.

An der Türkei hat Gazprom einen Narren gefressen, wird doch das Land als Abnehmer immer wichtiger. Hatte die Türkei im Jahr 2003 nur 12,9 Mrd. Kubikmeter Gas in Russland eingekauft, so waren es zehn Jahre später schon 26,7 Mrd. Kubikmeter, was Platz zwei unter Russlands größten Gasabnehmerländern hinter Deutschland (41 Mrd. Kubikmeter) bedeutet.

Das Land am Bosporus wird freilich aufgrund seiner geografischen Zwischenlage auch noch von anderen umgarnt. So wird im Moment eine Pipeline aus dem kaspischen Aserbaidschan durch die Türkei (Tanap = Trans Anatolian Gas Pipeline) und in einer Verlängerung weiter über Griechenland nach Italien (TAP = Trans Adriatic Pipeline) gebaut. Ab 2018 werden 16 Mrd. Kubikmeter (der doppelte österreichische Jahresverbrauch) über die Tanap fließen. Eine Aufstockung auf 30 Mrd. Kubikmeter ist möglich.

Die Türkei kann eigentlich die Hände in den Schoß legen und warten. Vom russischen Schwenk ist sie dennoch offenbar genauso überrascht wie die EU. „Die Türkei scheint noch keine klare Vorstellung von Turkish Stream zu haben, und sie hat noch nicht entschieden, wo sie stehen und was ihre Rolle in diesem Projekt sein soll“, meint Gulmira Rzayeva, Gasexpertin am Oxford Institute for Energy Studies.

Das Land am Bosporus befindet sich offenbar in einer Abwägungsphase, wie man die Vorteile des russischen Angebots nützen kann und den Russen doch keinen Einfluss auf die türkische Pipelinearchitektur überlässt. „Die Türkei kennt die schwierige Debatte zwischen der EU und Russland und weiß, dass sie den Bogen nicht überspannen und wirtschaftliche Nachteile mit dem Westen nicht riskieren darf“, erklärt Umbach. Das ist ihr zuletzt offenbar auch vonseiten der EU und der USA klar gesagt worden, was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass in den jüngsten Statements der Türkei die Tanap aus Aserbaidschan hochgehalten und als prioritär ausgegeben wird. Aber auch für Umbach steht in jedem Fall fest: „Die Bedeutung der Türkei als Transitland für Gaslieferungen in die EU wächst.“

Fakten

Die Türkei ist Russlands zweitgrößter Gaskunde nach Deutschland.

Im Jahr 2013 flossen 26,7 Mrd. Kubikmeter (der dreifache österreichische Jahresverbrauch) aus Russland in die Türkei.

Turkish Stream (die von Gazprom geplante Transitpipeline) soll 63 Mrd. Kubikmeter transportieren, 50 Mrd. Kubikmeter davon sollen in Europa ankommen.

Derzeit wird die Türkei über die sogenannte Blue-Stream-Pipeline durch das Schwarze Meer mit Gas aus Russland versorgt.

Tanap heißt die im Bau befindliche Pipeline aus Aserbaidschan in die Türkei. Ab 2018 transportiert sie 16Mrd. Kubikmeter Gas, zehn davon fließen über die zu errichtende Pipeline TAP weiter nach Italien. Tanap kann später auf 30 Mrd. Kubikmeter aufgestockt werden.

Corbis

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2015)

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