Analyse: Wie arm sind die Griechen wirklich?

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Osteuropäer wollen nicht für Griechenland zahlen, weil sie selbst noch weniger Geld haben. Nach der Kaufkraft sieht es freilich anders aus. Aber warum nur?

Wien. Das Murren über die störrischen Griechen wird in ganz Europa lauter. Dass sie gerettet werden wollen, ohne sich zu nachhaltig wachstumsfördernden Reformen zu verpflichten, schafft Unmut. Immer mehr auch bei den Osteuropäern. Ihr Argument: Sie sind ärmer als die Griechen. Womit sie auf den ersten Blick ganz recht haben: Auch nach vielen Jahren der Krise ist das Pro-Kopf-Einkommen in Griechenland immer noch höher als in den Erweiterungseurostaaten (mit Ausnahme Sloweniens, siehe Grafik). Das gilt auch für alle Ostländer, die ihre eigene Währung haben. Sie zeigen ähnlich wenig Verständnis für die Finanznöte Athens. Der Tenor ist immer: Auch wir sind durch Krisen gegangen, uns hat niemand geholfen, wir vollziehen die nötigen Anpassungen und haben unsere öffentlichen Haushalte im Griff.

Vergleich mit Tücken

Das Arm/Reich-Ranking hat aber seine Tücken. Bei Vergleichen zwischen Staaten gewichten Ökonomen das BIP pro Kopf meist mit der Kaufkraft, beziehen es also auf die Preise eines Warenkorbs. Aus gutem Grund: Nur so lässt sich bei unterschiedlichen Währungen der Effekt der schwankenden Wechselkurse herausfiltern. Aber auch innerhalb eines Währungsraums ist der Vergleich so aussagekräftiger: Mit dem gleichen Gehalt kann man sich im armen Estland weit mehr als im reichen Luxemburg leisten.

Reiht man aber die EU-Länder nach dieser Korrektur neu, sieht die Sache anders aus: Alle Euroländer mit Ausnahme Lettlands sind dann plötzlich „reicher“ als Griechenland. Darauf hat, von der „FAZ“ befragt, Sebastian Leitner vom WIIW (Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche) vor einigen Tagen hingewiesen.
Fragt sich nur, welche Schlüsse man daraus ziehen soll. Ist nur der Vergleich mit Rücksicht auf die Kaufkraft „fair“? Die Osteuropäer könnten mit den Schultern zucken und sagen: Ein Euro ist ein Euro. Oder auch: Wenn bei uns der Euro eine so hohe Kaufkraft hat, ist es umso schlimmer, wenn wir hohe Beträge für Griechenland opfern müssen. Die entscheidende Frage betrifft aber die Griechen selbst: Ist ihre relativ niedrige Kaufkraft nun Schicksal? Sollte sie nur ein weiterer Grund für Mitgefühl und europäische Solidarität sein?

Dabei hilft ein weiterer Blick auf die Rankings. Es zeigt sich: Der generelle Effekt funktioniert überall. Die Bewohner der reichen Länder sind auf den zweiten Blick nicht ganz so reich, weil sie mit hohen Preisen leben müssen. Und jene ärmerer Länder nicht ganz so arm, weil niedrige Preise mildernd wirken. Die Stärke des Effekts variiert im Allgemeinen wenig. Das sieht man daran, dass die meisten Länder in beiden Listen auf gleicher Höhe liegen oder sich nur wenig verschieben. Die Ausnahme: Griechenland. Kein Land rutscht bei der Kaufkraftgewichtung so stark ab. Das heißt: Die Griechen schaffen es viel schlechter als etwa Portugiesen oder Tschechen, ihr relativ geringes Wohlstandsniveau durch entsprechend niedrige Preise zu kompensieren. Warum?

Geschlossen statt offen

Ein „Presse“-Rundruf unter Ökonomen ergibt folgendes Bild: Die griechische Volkswirtschaft ist sehr geschlossen. Der Anteil der Dienstleistungen ist ungewöhnlich hoch; sie sind (vom Tourismus abgesehen) kaum internationalem Wettbewerb ausgesetzt. Dazu kommen Regulierungen, die viele Berufe auch von inländischer Konkurrenz abschotten – etwa durch Lizenzen im Transportsektor. Die Folge: Die Preise passen sich nur langsam und zögerlich an. Bei den handel- und exportierbaren Gütern aber ist Griechenland sehr schwach aufgestellt, es fehlt die industrielle Basis. Diese Waren müssen importiert werden, zu den international üblichen Preisen, auch wenn sie in der Krise für viele Griechen zu teuer werden. Die Möglichkeit, diese Produkte im Land selbst günstiger zu produzieren, besteht kaum.

Dazu kommt: Der massive Einbruch im Wohlstandsniveau – um 25 bis 30 Prozent seit Ausbruch der Krise – rührt vor allem von der drastisch gestiegenen Zahl der Arbeitslosen. Wer noch einen Job hat, verdient in Relation zur Produktivität oft immer noch zu viel – auch im privaten Sektor. Die Preise fallen nicht im gleichen Ausmaß wie die Pro-Kopf-Einkommen.

Das Land ist noch nicht ausreichend wettbewerbsfähig, um sich in eine offene Volkswirtschaft zu verwandeln, in dem der Wettbewerb für eine rasche Anpassung der Preise sorgt. Ganz anders sieht es in den sehr offenen Volkswirtschaften Osteuropas aus. Aber auch Portugal und Spanien haben die Wende geschafft. Das Fazit: Dass die Griechen nach Kaufkraftgewichtung deutlich ärmer als im Pro-Kopf-Vergleich sind, liegt vor allem an falschen Strukturen. Und Geldspritzen ohne Auflagen sind vermutlich der falsche Weg, wenn sich daran etwas ändern soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2015)

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