Wie es wohl wäre ohne Wachstum

Smog, in China eine alltägliche Begleiterscheinung des Wachstums
Smog, in China eine alltägliche Begleiterscheinung des WachstumsREUTERS
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Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, werden viele arbeitslos. Wenn sie exponentiell weiterwächst, droht der ökologische Kollaps. Die Wachstumsforschung sucht nach Auswegen aus diesem Dilemma. Wie gelingt die richtige Dosis?

Ein Problem ist das, worüber alle reden. Auch als die Wirtschaft noch Wunder wirkte, machten sich die Menschen Zukunftssorgen: wohin denn das atomare Wettrüsten führe und welchen Einfluss die wilde Rockmusik auf die unreife Jugend habe? Aber über das Wachstum zerbrach sich niemand den Kopf. Warum auch? Die Wirtschaft wuchs von selbst, und alle fanden das gut. Heute ist dieser Optimismus einer tiefen Skepsis gewichen. Alle wissen: Wie es mit dem Wachstum weitergeht, entscheidet über unsere Zukunft. Aber hier hört die Einigkeit schon auf.

»Wozu würde ein Verzicht auf Wachstum führen?«

Denn die einen warnen vor kollabierenden Sozialsystemen und Heerscharen von Arbeitslosen. Sie fürchten zu wenig Wachstum. Die anderen denken an die Ausbeutung der Ressourcen und schmelzende Polkappen. Ihnen graut vor zu viel Wachstum. Zu viel? Zu wenig? Die Nebel lichten sich, wenn man die Welt in zwei Hälften teilt: hier die Industriestaaten, dort die Schwellen- und Entwicklungsländer.

Sündenbock Kapital

In der ersten Welt zeichnet sich immer deutlicher ab, was Wachstumsforscher wie Fritz Hinterberger eine „säkulare Stagnation“ nennen. Die Zeiten, in denen die ökonomische Aktivität jedes Jahr um drei, vier Prozent zugenommen hat, sind für den Leiter des Wiener Seri-Instituts endgültig vorbei. Japan machte den Anfang. Nach der Schuldenkrise dümpelt auch Europa dahin. Hinzu kommt der Kindermangel, der bald die Zahl der Erwerbstätigen schrumpfen lässt. Und die USA? Der dort noch stärkere Aufschwung lässt sich auch als letztes Strohfeuer deuten, angeheizt durch den nicht nachhaltigen Fracking-Boom.

Fragt sich: Was wäre so schlimm daran, wenn die Kurve ganz abflacht, statt exponentiell anzusteigen? Doppelt so viel Konsum in nur wenigen Jahrzehnten können wir uns ohnehin nicht vorstellen. Und wer braucht das schon? Hier driften die Gedanken oft ins Ideologische ab: Der Kapitalismus selbst zwinge uns, voller Gier nach immer mehr zu streben, sagen die einen. Was die Verteidiger der Marktwirtschaft dazu zwingt, im freien Spiel der Kräfte die einzige Lösung aller Wachstumsprobleme zu sehen – obwohl wir es beim Klimawandel mit klassischem Marktversagen zu tun haben.

Für den Ökonomen Gunther Tichy, der 2009 einen großen Debattenband über nachhaltiges Wachstum der Akademie der Wissenschaften orchestriert hat, sind solche Fehden fehl am Platz. Den linken Systemkritikern entgegnet er: Allenfalls der Finanzmarkt angelsächsischen Zuschnitts, wo die Börse als Motor dient und Anleger steigende Kurse fordern, lasse so etwas wie immanenten Zwang erkennen. Im kaum weniger kapitalistischen Europa aber finanzieren vor allem Banken die Unternehmen – und ihr Geschäftsmodell funktioniert auch dann, wenn das Kreditvolumen nicht immer weiter steigt.

Der Treiber, der uns bisher zum Wachsen verdammt, ist ein anderer: der technologische Fortschritt. Seit dem frühen 19. Jahrhundert treten die Naturwissenschaften, von der industriellen bis zur digitalen, eine Revolution nach der anderen los, egal in welchem System. Eine Wirtschaft mit Wettbewerb setzt sie nur besser in Wohlstand um als der Kommunismus.

Yoga statt Mercedes

Die Folge ist immer die gleiche: Maschinen ersetzen Menschen. Wenn die Wirtschaft nicht zumindest im gleichen Maß wächst wie die Produktivität, werden immer mehr arbeitslos. Das wollen auch die schärfsten Gegner des „Wachstumswahns“ nicht. Denn Arbeit verschafft nicht nur individuelles Einkommen. Unser Sozialmodell kippt, wenn es zu wenige Wertschöpfer gibt. Und Erwerbstätigkeit gehört in unserem Wertekanon zu einem erfüllten Leben.

Aber warum haben wir nicht jetzt schon viel mehr Arbeitslose? Weil auch die Produktivität weniger stark zunimmt als früher. Die Schwelle, ab der die Beschäftigung konstant bleibt, liegt heute eher bei einem als bei drei Prozent Wachstum. Der Grund: Wir konsumieren mehr Dienstleistungen. Hinter ihnen steht menschliche Arbeit, deren Produktivität sich nicht so massiv steigern lässt wie die von Maschinen und Computern. Das Konsumverhalten verändert sich also. Das deutet auf eine gewisse Sättigung hin, zumindest von der Mittelschicht aufwärts. Das kommt für viele Sozioökonomen durchaus überraschend. Sie sind davon ausgegangen, dass es uns immer um relative Zuwächse geht: Wir brauchen zwar nicht immer größere Autos. Aber um uns gut zu fühlen, muss unseres größer sein als das des Nachbarn. Auf dieser Basis wären materielle Bedürfnisse tatsächlich unbegrenzt. Der Aufstieg in der Bedürfnispyramide, hin zu immateriellen Gütern, scheint aber die Dynamik zu dämpfen. Vielleicht liegt es daran: Mit meinem teuren Yogalehrer kann ich weniger leicht protzen als mit dem Mercedes vor dem Haus oder dem Champagner im Restaurant. Der demonstrative Konsum verliert dann als Treiber an Bedeutung.

Arbeit neu verteilen

Sind wir also schon auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die mit wenig Wachstum gut auskommt? Dagegen werden jene Einspruch erheben, die wenig haben: Für sie ist die Sättigung der Bedürfnisse ein Elitenproblem. Doch wenn die Abkehr vom Materiellen einmal breite Kreise erfassen sollte, wird sich zeigen, dass die Sache mit den Dienstleistungen einen Haken hat: Nachdem wir acht Stunden lang andere beraten, therapiert und gecoacht haben, brauchten wir weitere acht Stunden, um das Verdiente zu konsumieren – also uns selbst von anderen beraten, therapieren und coachen zu lassen. Dazu fehlt uns die Zeit. Also sind auch einer ressourcenschonenden Dienstleistungsgesellschaft Grenzen gesetzt.

Damit bleibt uns, bei chronischer Wachstumsschwäche, die schwere Übung nicht erspart: Wir müssen den geringeren Bedarf an Arbeit neu verteilen. In der Theorie arbeiten dann alle gleichmäßig weniger und verzichten auf (steigenden) Lohn. In der Praxis dürfte das kaum so einfach funktionieren. Der Wandel würde einige Sektoren stark treffen, andere kaum.

Wohlhabende Menschen wären vielleicht eher bereit, sich zu bescheiden. Aber auf die ganztägige Arbeit guter Manager oder Chirurgen will die Gesellschaft nicht verzichten. Und umgekehrt: Wer eine Arbeit hat, die leicht ersetzbar und teilbar wäre, ist stärker auf seinen Verdienst angewiesen. Die Folge wären wohl soziale Spannungen – zwischen jenen, die weiter ganztags schuften, und jenen, die gar keine Arbeit mehr haben und von den anderen finanziert werden müssen.

Wie zart das Pflänzchen der neuen Werte in Österreich noch ist, zeigt die Freizeitoption, die erstmals 2013 in der Elektroindustrie angeboten wurde. Zur Wahl stand eine dreiprozentige Gehaltserhöhung oder alternativ fünf Wochenstunden mehr Freizeit. In den Firmen, die das Angebot umsetzten, entschieden sich im Schnitt nur acht Prozent der Arbeiter und zehn Prozent der Angestellten für mehr Freizeit statt mehr Lohn. Von einem breiten Kulturwandel kann also (noch) keine Rede sein. Erst recht nicht in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Chinesen, Inder und Afrikaner wollen aufschließen zum Wohlstandsniveau der westlichen Welt – und wer könnte es ihnen verwehren? Für den größten Teil der Weltbevölkerung ist daher noch jahrzehntelang mit hohen Wachstumsraten zu rechnen. Wobei auf die Relationen zu achten ist: Ein Prozent Pro-Kopf-Wachstum in Österreich entspricht im absoluten Niveau sieben Prozent in China oder 40 Prozent in Kenia. Dennoch droht dem Planeten im Ganzen der ökologische Kollaps. Es sei denn, es gelingt das Entkoppeln des Wachstums vom Ressourcenverbrauch: durch sparsamere Produktion, Recycling und grüne Technologien. Die Erfahrung stimmt aber nur mäßig optimistisch: Bis Mitte der Nullerjahre ist die angestrebte Schere zwar recht gut aufgegangen, doch seitdem schließt sie sich wieder (siehe Grafik).

Geschöntes Entkoppeln

Als Grund nennt Hinterberger den massiven Aufbau von Infrastruktur in China. Der aktuellste Stand: Die globale Wirtschaftsleistung stieg von 1980 bis 2011 um 125 Prozent, der Ressourcenverbrauch um 79 Prozent – nur ein Teilerfolg. In Europa gelingt die Entkoppelung zwar wesentlich besser. Aber die Zahlen sind geschönt, weil viele „dreckige“ Industrien abgewandert sind. Zuerst vor allem nach China, nun in noch ärmere Weltgegenden.

In Afrika und im arabischen Raum kommt ein weiterer Treiber ungezügelten Wachstums hinzu: immer mehr Menschen. Die UNO rechnet vor: Selbst wenn ab sofort alle Frauen in den ärmsten Ländern nur mehr zwei Kinder bekämen, würde die Bevölkerung dort noch bis 2070 um eine weitere Milliarde ansteigen. Sehr viele Kinder pro Paar sind ein Zeichen von Armut: Wo soziale Netze fehlen, ist der eigene Nachwuchs die Pensionsvorsorge. Damit scheinen die Menschen in Entwicklungsländern nur die Wahl zwischen zwei problematischen Optionen zu haben: Entweder bleiben sie bitterarm und werden immer mehr, was zu Massenfluchten führen dürfte. Oder sie entwickeln sich wirtschaftlich sehr schnell und drücken so die Geburtenraten – aber verschärfen bis dahin massiv die globalen ökologischen Probleme. Hinterberger sieht einen Ausweg: Die Entwicklungsländer müssten Stufen der Technologie überspringen. So wie bei der Telekommunikation: Die Afrikaner verzichten auf das Festnetz und greifen gleich zum Mobiltelefon. Ähnlich könnten sie ihr künftiges Wachstum statt mit Kohle und Atom mit einer ausgereiften und günstigen Solarenergie befeuern.

Als Fazit bleibt: Es lassen sich durchaus Pfade in eine Zukunft mit wohldosiertem Wachstum schlagen – solche, die den reichen Staaten ihr Sozialmodell bewahren, den armen Ländern den Aufstieg erlauben und der Menschheit ein gutes Überleben sichern. Aber die große, bange Frage bleibt, ob die Pfade noch rechtzeitig zu diesen Zielen führen.

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