Der Crash kam aus der Vorortvilla

U.S. Prosecutors Seek Extradition Of Flash Trader Navinder Singh Sarao
U.S. Prosecutors Seek Extradition Of Flash Trader Navinder Singh Sarao(c) Bloomberg (Simon Dawson)
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Der US-„Flash Crash“ von 2010 ist eine der schlimmsten Episoden in der Geschichte der Börsen. Die Ursache blieb ein Rätsel – bis jetzt: Schuld war wohl ein Gauner aus London.

Wien/London. Ein bescheidenes Zweifamilienhaus in einem Vorort von London. Über den Dächern donnern Jets im Anflug auf Heathrow. Um sich vor dem Lärm zu schützen, trägt Navinder Sarao meist Kopfhörer, wenn er an seinen Bildschirmen sitzt. Er ist ein unbedeutender Tageshändler an der Börse. Seine Firma leitet er von zu Hause aus. Am Dienstagabend wurde er dort verhaftet. Am Mittwoch erschien der 36-Jährige vor Gericht, in Sweater und Trainingshose. Nur die Anklage aus den USA passt nicht zum Bild des kleinen Fisches: Das Suburb-Häuschen des Herrn Sarao soll das heimliche Epizentrum eines der heftigsten Finanz-Erdbeben der Geschichte gewesen sein – des „Flash Crash“ der US-Aktien vor knapp fünf Jahren.

Der 6.Mai 2010 hatte schon düster begonnen. In Europa spitzte sich die Krise um Griechenland zu. Die Aktienkurse bröckelten, die Nervosität war groß. Um 14.42Uhr blieb den Börsenhändlern fast das Herz stehen: Die Kurve des Dow Jones stürzte senkrecht in die Tiefe. In nur sechs Minuten verlor der Leitindex 600 Punkte. Fast eine Billion Dollar hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst. Einzelne Aktien spielten völlig verrückt: Große Kaliber wie die Beratungsfirma Accenture waren plötzlich nur mehr einen Cent pro Aktie wert. Umgekehrt stiegen einige Werte, wie Apple, Hewlett-Packard oder Sotheby's, auf absurde Höhen von über 100.000 Dollar pro Anteilschein. Ähnlich schnell, wie der Spuk hereinbrach, war er wieder vorbei: Nach nur 20 Minuten hatte der Markt die Verluste zum großen Teil wettgemacht. Die Wall Street war mit dem Schrecken davongekommen. Aber das Unbehagen blieb.

Rasch war für die Öffentlichkeit ein Schuldiger gefunden: der Hochfrequenzhandel. Tatsächlich generierten dessen Computerprogramme auf einem Markt, der mangels ausreichend vieler Käufer plötzlich illiquide geworden war, in Sekundenbruchteile aggressive Verkaufsaufträge, die den Abwärtssog verstärkten. Aber dem Prinzip des automatisierten Handels ist es auch mit zu verdanken, dass sich der Markt – nach nur fünf Sekunden automatischer Zwangspause – so rasch wieder erholte. Vor allem aber: Die erste Ursache lag wohl woanders. Von einer technischen Panne war anfangs die Rede, oder einem „Wurstfinger“, der auf der Tastatur versehentlich ein paar Nullen zu viel tippt. Oder aber einem Betrüger, der den Markt manipuliert, die Puppen tanzen lässt und sich am Chaos bereichert. Fünf Jahre hat es gedauert, bis sich diese These erhärtete: Für die US-Finanzaufsicht ist Sarao „zumindest maßgeblich verantwortlich“ für das Ungleichgewicht, das den Crash ausgelöst hat.

40 Mio. Dollar durch Manipulation

Wie aber stellte er das an? Der Terminhändler bastelte eine Standardsoftware zu seinen Zwecken um. Er schuf einen Algorithmus für ein automatisiertes Täuschungsmanöver, das als „Spoofing“ bekannt ist. Das Prinzip ist einfach: Der Betrüger überlistet andere Akteure, indem er große Verkaufsaufträge setzt und so glauben macht, der Preis würde fallen. Kurz vor der Ausführung zieht er den Auftrag zurück – und spielt das Spiel danach in der Gegenrichtung. Am Ende hat er wie beim Hütchenspiel von der Verwirrung profitiert und streicht seinen Gewinn ein. Allein an jenem denkwürdigen Maitag soll Sarao 879.000 Dollar verdient haben, an der Terminbörse in Chicago, von der die Turbulenzen nach New York überschwappten. Weil er nicht entdeckt wurde, machte der Brite weiter – und häufte im Lauf der Jahre 40 Mio. Dollar durch Manipulationen an.

Er geriet zwar später ins Visier der Aufsicht, die ihn verwarnte. Mit dem „Flash Crash“ aber brachte sie ihn nie in Verbindung. Dazu brauchte es erst einen privaten Aufdecker, der in jahrelanger Kleinarbeit die Ereignisse rekonstruierte. Er will unbekannt bleiben und lässt seinen Anwalt für sich reden. Seine Erkenntnisse teilte er der Behörde mit, die sie für valid befand. Eine ziemliche Schlappe für die Aufseher, die in der ganzen Affäre keine gute Figur machten. Ganze vier Monate dauerte ihre Untersuchung nach dem Crash, was sie mit ihrer antiquierten IT-Ausrüstung entschuldigten. Ihr Fazit war damals: Waddell & Reed, eine Investmentfirma in Kansas, habe durch eine einzige große Order die ganze Lawine ins Rutschen gebracht – unschuldig, wohlgemerkt. Schon damals gab es starke Zweifel an dieser offiziellen Version. Nun scheint sie widerlegt. Sarao soll in die USA ausgeliefert werden, wogegen er sich wehrt, weil ihm eine hohe Gefängnisstrafe droht. Auch seine Nachbarn verstehen die Welt nicht mehr: so ein ruhiger, unauffälliger junger Mann! Doch er hat wohl das Finanzsystem eigenhändig aus den Angeln gehoben – zumindest für ein paar Minuten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2015)

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