Kurseinbruch an Amerikas Hochschulen

File of students taking their seats for the diploma ceremony at Harvard University in Cambridge
File of students taking their seats for the diploma ceremony at Harvard University in CambridgeREUTERS
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In den USA bricht die einst an den Börsen umjubelte Branche privater Collegeanbieter zusammen. Vor dem Hintergrund der Studentenkreditkrise entspinnt sich ein Drama aus Gier, Verzweiflung und Naivität.

Die Zahl der Kunden wächst und wächst, je schlimmer die allgemeine Wirtschaftskrise ist, und der Staat zahlt stets die Rechnung: von so einem Geschäftsmodell können die meisten Unternehmer nur träumen.

Noch vor fünf Jahren befanden sich in den USA die Betreiber gewinnorientierter Colleges und Universitäten in dieser beneidenswerten Lage. Nach dem Ausbruch der Finanzkrise und dem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit stürmten hunderttausende junger Amerikaner deren Kursprogramme. Auf dem Arbeitsmarkt kamen sie mangels Ausbildung und Berufserfahrung nicht unter, die vielfach über Computerfernkurse erworbenen Diplome erschienen ihnen als Schlüssel zum Karriereeinstieg. Die University of Phoenix, ein Tochterunternehmen der in New York an der Börse notierten Apollo Education Group, hatte im Jahr 2010 rund 475.000 Studenten. Die diversen Colleges, die unter der ebenfalls an der New Yorker Technologiebörse Nasdaq gelisteten Marke Corinthian versammelt waren, hatten damals immerhin rund 114.000 zahlende Studenten.

Wobei die Studenten streng genommen nicht unmittelbar selbst zahlten. Jährlich kassierte Corinthian rund 1,4 Milliarden Dollar (1,2 Milliarden Euro) an staatlichen Studentenkrediten und -beihilfen von der US-Regierung. Im langjährigen Durchschnitt lukrierte das Unternehmen auf diese Weise mehr als 80 Prozent seiner Einnahmen aus Steuermitteln.

Insolvenz. Ende April, fast genau zwei Jahrzehnte nach seiner Gründung, hat Corinthian jedoch Insolvenz angemeldet. Die verbliebenen 28 Standorte in mehreren US-Teilstaaten wurden unverzüglich geschlossen, alle Onlinekurse beendet. Die rund 16.000 Studenten geraten dadurch in eine fatale Lage: Sie müssen ihre staatlichen und privaten Studiendarlehen zurückzahlen, ohne ein Ausbildungsdiplom in der Tasche zu haben.

Ein Diplom, das allerdings auf dem Arbeitsmarkt ohnehin nichts wert gewesen wäre. Seit Jahren ermitteln mehrere US-Behörden – vom Bildungsministerium in Washington über die Börsenaufsicht SEC bis zu Staatsanwaltschaften in einigen Teilstaaten – wegen unlauterer Geschäftspraktiken und des Verdachts des schweren Betrugs gegen Corinthian. Schon vor einem Jahr hat das Bildungsministerium die Ausschüttung von Studentendarlehen für Corinthian-Kurse gestoppt, nachdem Ermittlungen ergeben haben, dass das Unternehmen Studenten gezielt zur Fälschung ihrer Anträge für staatliche Beihilfen angestiftet und die Statistiken über die Berufsaussichten von Absolventen krass gefälscht hat. In manchen Fällen wurden arbeitslose Corinthian-Alumni für einen Tag von Zeitarbeitsfirmen angestellt und diese Scheinhandlung als Vollzeitbeschäftigung registriert.

Der Grund für diese Trickserei: In den USA bekommen profitorientierte Privathochschulen nur dann Zugang zu staatlichen Fördertöpfen, wenn sie nachweisen können, dass ihre Ausbildung den Studenten zu einer einträglichen Erwerbsarbeit verhilft. Wenn man einträglich arbeitende Absolventen auf dem Papier vorweisen kann, können die aktuellen Studenten weiterhin geförderte Kredite beantragen.

Doch damit waren die Kosten eines typischen Corinthian-Studiums nicht abgedeckt. Ein zweijähriger Bachelorabschluss kostete bis zu 75.000 Dollar: mehr, als das Bildungsministerium üblicherweise zahlt. Und so bot Corinthian den Studenten sogenannte Genesis-Darlehen zu haarsträubenden Konditionen an. Die Kreditgebühr betrug gleich zu Beginn sechs Prozent, die jährliche Zinsrate rund 15 Prozent. Beide Werte lagen über dem Doppelten dessen, was Studenten für staatliche Darlehen berappen müssen. Beim Eintreiben ausständiger Schulden war das Unternehmen nicht zimperlich: Säumige Studenten wurden aus Klassenzimmern abgeführt, und ihnen wurde der Zugang zu Computerräumen verwehrt. Mehr als 60 Prozent der Studenten gerieten meist innerhalb von drei Jahren mit den Kreditraten in Rückstand, ermittelte das Consumer Financial Protection Bureau (CFPB), die Konsumentenschutzbehörde.

Immerhin hat das CFPB noch im Februar mit dem letzten Eigentümer von Corinthian, dem Finanzdienstleister ECMC Group, vereinbart, dass die insgesamt 480 Millionen Dollar solcher Genesis-Darlehen erlassen werden. Doch was mit den ausständigen staatlichen Studentenkrediten passieren soll, ist ungelöst. Mehr als 150 Corinthian-Studenten haben sich der wachsenden Protestbewegung „Debt Collective“ angeschlossen und einen Schuldenstreik erklärt. Weitere rund 1000 aktuelle und frühere Studenten haben laut „New York Times“ beim Bildungsministerium in aller Form die Streichung ihrer Schulden beantragt.

Was sind das für Menschen, die sich für einen Kurs an einem College ohne Renommee in zehntausende Dollar Schulden stürzen? Ein Blick auf mehrere Einzelschicksale veranschaulicht, wie sich Corinthian die Angst, auf dem Arbeitsmarkt zu stranden, den Ehrgeiz, etwas aus sich zu machen, und die Naivität in der Einschätzung des eigenen Potenzials ausgenutzt hat. Alleinerziehende Mütter, Veteranen der Kriege im Irak und in Afghanistan und generell finanzschwache Leute waren die Zielgruppe, die geködert wurden. Die „New York Times“ berichtet von Brittany Prock aus der Kleinstadt Merit in Texas, die sich mit einem Kurs in Kriminologie den Traum von der Detektivkarriere verwirklichen wollte. Fünf Jahre nach ihrem Abschluss hat die nun 36-Jährige 83.542 Dollar an Schulden und ist noch immer arbeitslos. Noch schlimmer hat sich einem Bericht der „Chicago Tribune“ zufolge die heute 49-jährige Dawn Thompson ins Schlamassel geritten. Nach ihrer Scheidung arbeitete die zweifache Mutter als Sekretärin. Um Rechtsanwaltsgehilfin zu werden, schrieb sie sich an einem Corinthian-Onlinekurs ein. Der Bachelorabschluss brachte ihr zwar 127.000 Dollar Schulden ein, aber keine Stellenangebote.

Überlaufene Colleges. Schicksale wie diese sind gewiss Extremfälle. Sie sind zudem dem Umstand geschuldet, dass man sich in den USA für viele Berufe, für die man sich in Österreich mit einer Lehre oder in einer berufsbildenden höheren Schule qualifiziert, an einem College einschreiben muss. Die meisten wählen dafür ein Community College, eine Einrichtung, die nach österreichischen Maßstäben irgendwo zwischen BHS, HTL und Fachhochschule verortet ist. Die Community Colleges waren zur Zeit der hohen Arbeitslosigkeit stark überlaufen, was die Nachfrage nach Plätzen an gewinnorientierten Colleges erhöht hat. Diese Nachfrage ist angesichts des erholten US-Arbeitsmarktes stark gesunken. Die University of Phoenix etwa hat heute nur mehr halb so viele Studenten wie 2010.

Der langjährige Trend ist aber eindeutig: Immer mehr junge Amerikaner verstricken sich in immer höhere Schulden, um studieren zu können. Die gesamten Studentenkredite belaufen sich heute auf mehr als einer Billion Dollar. Binnen eines Jahrzehnts hat sich diese Summe verdoppelt. 42 Millionen Amerikaner haben Studentenkreditschulden; im Jahr 2009 waren es noch 28 Millionen. Laut der jüngsten Statistik des US College Boards, des Verbands der amerikanischen Hochschulen, war die durchschnittliche Verschuldung im Jahr 2013 um 35 Prozent höher als im Jahr 2004.

Jährlich steigen die Studienkosten um rund zehn Prozent, und die Ausgaben der Bundesregierung für Studienbeihilfen und geförderte Studentenkredite steigen mit. Man kann hier einen ähnlichen Effekt mangelhafter Regulierung beobachten, wie er anderorts dafür sorgt, dass das US-Gesundheitswesen das teuerste, aber bei Weitem nicht das beste der Welt ist. Spitals- und Hochschulbetreiber unterliegen keiner wirklichen Kostenkontrolle durch den Staat, der sie letztlich finanziert.

Zumindest ist es nun denkbar, dass das Bildungsministerium des Wildwuchses bei den profitorientierten Colleges Herr wird. Ab 1. Juli wird nämlich ein strengerer Standard für die bereits erwähnte einträgliche Erwerbsarbeit (gainful employment) gelten. Künftig bekommt ein College nur mehr dann mit staatlichen Krediten geförderte Studenten, wenn der gesamte jährliche Schuldendienst seiner Absolventen weniger als acht Prozent deren Gesamteinkommen beträgt.

Zahlreiche Einrichtungen haben seit Veröffentlichung dieser neuen Vorschrift im vergangenen November geschlossen. Kein Wunder: Das Ministerium hat berechnet, dass 1400 Programme mit derzeit rund 840.000 Studenten dieses Kriterium derzeit nicht erfüllen würden.

Fakten

Studentenkredite. Sie werden in den USA gern in Kauf genommen, um ein Studium absolvieren zu können. Heute belaufen sich die gesamten Studentenkredite auf über eine Billion Dollar. Binnen eines Jahrzehnts hat sich die Summer verdoppelt.

Schulden. 42 Millionen Amerikaner haben Studentenkreditschulden. Im Jahr 2009 waren es noch 28 Millionen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2015)

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