Puerto Rico: Das karibische US-Griechenland

A man walks past a closed store with signs reading 'Closing down sale' and 'Everything goes, shoes, clothes, take advantage' in Arecibo, Puerto Rico
A man walks past a closed store with signs reading 'Closing down sale' and 'Everything goes, shoes, clothes, take advantage' in Arecibo, Puerto RicoReuters
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Ein Jahrzehnt Rezession und die Emigration jedes zehnten Bürgers haben Puerto Rico in den Ruin getrieben. Dennoch blähte man unter Mithilfe der Wall Street die Staatsausgaben auf.

Eigentlich hätte Puerto Rico alle Voraussetzungen dafür, das Singapur der Karibik zu werden. Die Insel, im Jahr 1898 von den USA besetzt und heute als nicht inkorporierter Freistaat Teil derselben, liegt geografisch günstig auf halbem Weg zwischen den USA und den Wachstumsmärkten Südamerikas. Seit Jahrzehnten ist sie von Revolutionen und Aufständen verschont und in das verlässliche amerikanische Rechtssystem eingebunden. Die rund 3,5 Millionen Bürger sind zweisprachig, besitzen die US-Staatsbürgerschaft und zahlen mit Dollar. Puerto Rico ist keiner der 50 Gliedstaaten der USA, viel amerikanischer als hier geht es jedoch im Herzen der Karibik nirgendwo anders zu.

Doch stattdessen steht Puerto Rico vor dem Abgrund. Mit in Summe rund 73 Milliarden Dollar (66 Milliarden Euro) sind der Staat und zwei Pensionsfonds für Beamte sowie die Wasserwerke, der einzige Energieversorger und der Schnellstraßenbetreiber im Ausland verschuldet. Das sind rund 106 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Puertoricaner tragen pro Kopf eine 15-mal höhere öffentliche Schuld, als der Mittelwert aller 50 Gliedstaaten der USA beträgt, ergab eine Erhebung von Moody's Investors Service.

„Wir können es dem schweren Gewicht der Schulden nicht erlauben, uns in die Knie zu zwingen“, sagte Gouverneur Alejandro García Padilla am Montag in einer Fernsehansprache an die Nation und erklärte eine zumindest teilweise Streichung der Verbindlichkeiten für alternativlos.

Tatsächlich ist Puerto Rico schon seit Jahren auf den Knien. Bereits vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise im Sommer 2008, die ihren Ausgang in den USA nahm, begann die Wirtschaftsleistung zu schrumpfen. Investitionen im Ausmaß eines Zehntels der gesamten Wirtschaftsleistung von derzeit knapp 69 Milliarden Dollar sind im vergangenen Jahrzehnt weggebrochen; drei Viertel davon fielen auf die Baubranche. Zugleich verstärkte sich auch die Auswanderung. Mehr als 310.000 Puertoricaner haben seit dem Jahr 2005 ihre Heimat verlassen und sind fast allesamt in die USA gezogen, wo sie die Arbeitserlaubnis erhalten.

Fatale Steuerzuckerln. Doch ungeachtet dieser düsteren Aussichten haben die puertoricanischen Politiker die Staatsausgaben eifrig erhöht. Mit hohen Gehältern für Beamte und üppigen Sozialleistungen kaufte sich das politische System seinen Erhalt.

Der Blick auf die nackten Zahlen ist erschütternd. Obwohl heute um 40 Prozent weniger Kinder als vor einem Jahrzehnt Puerto Ricos Schulen besuchen, gibt es um zehn Prozent mehr Lehrer als damals. Eine dreiköpfige Familie kann monatlich 1743 Dollar an Sozialleistungen sammeln – der Mindestlohn eines Vollzeit arbeitenden Alleinverdieners jedoch beträgt nur 1159 Dollar. Die logische Folge: Nur vier von zehn Bürgern im erwerbsfähigen Alter sind auf dem offiziellen Arbeitsmarkt. In den USA sind es 63 Prozent.

Zwei fatale Steuerzuckerln, von den Politikern in Washington auf Zuruf einflussreicher Konzernlobbys beschlossen, haben diese Schuldenspirale angetrieben. Erstens waren bis 2006 Industriebetriebe auf Puerto Rico steuerlich begünstigt. Das hat Formen der Lohnfertigung auf die Insel gebracht, die sonst preislich nicht im globalen Wettbewerb hätten mithalten können, wie sich nach dem Auslaufen dieser indirekten Subvention gezeigt hat. Zweitens müssen US-Investoren bis heute die Zinserträge aus puertoricanischen Staatsanleihen nicht versteuern. Dazu kommt eine besonders investorenfreundliche Bestimmung in der Verfassung der Insel: Um die Auszahlung von Anleihengläubigern zu garantieren, sind bestimmte Staatseinnahmen für den Schuldendienst zweckgewidmet. Die Einnahmen aus der nun von sieben auf 11,5 Prozent erhöhten Umsatzsteuer zum Beispiel gehen direkt an die staatliche Finanzagentur, die die Anleihen begibt.

Allerdings wurden die Politiker in ihrer Schuldenmacherei von Hedgefonds und Risikokapitalinvestoren eifrig angefeuert. Sie witterten mit wachsender Verschärfung der finanziellen Misere die Chance auf jene Geschäfte, mit denen sie sich zwischenzeitlich auch am Schuldenschlamassel Griechenlands bereichert haben: abgewertete Anleihen billig kaufen und nach Verbesserung der Lage an andere Investoren, vor allem Pensionsfonds, mit Aufschlag verkaufen. Sie nahmen der Regierung in San Juan im März rund 3,5 Milliarden Dollar an neuen Bonds ab.

Diese Gleichung geht allerdings nur auf, wenn sich die puertoricanische Wirtschaft tatsächlich erholt – oder zumindest ausreichend viele potenzielle Anleihenkäufer glauben, dass dem so sei. Und so übt sich vor allem der Hedgefondsmilliardär John Paulson, der groß in Puerto Rico investiert und aus Gründen der Steuerersparnis eine Übersiedlung auf die Insel erwogen hat, in zweifelhafter Propaganda. Den eingangs erwähnten Vergleich mit Singapur zog er im vergangenen Jahr auf einer Investorenkonferenz.

Seit der Warnung von Gouverneur Padilla am Montag, dass es ohne Schuldenerlass nicht mehr geht, haben Paulson und die anderen Spekulanten Verluste von bis zu 17 Prozent erlitten. Das erklärt, wieso ihre Lobbyisten in Washington im Kongress Sturm laufen gegen jenen Gesetzesvorschlag, der es Puerto Rico erlauben würde, nach dem Vorbild von US-Städten wie Detroit ein geordnetes Insolvenzverfahren zu eröffnen. Das jedoch ist laut einer Expertengruppe unter Führung der früheren Vizechefin des Internationalen Währungsfonds, Anne Krueger, der einzige Ausweg für die bankrotte Insel.

In Zahlen

73Milliarden Dollar
Staatsschuld Puerto Ricos; das sind rund 106 Prozent des BIPs.

1743Dollar
Summe monatlicher Transferleistungen, die eine dreiköpfige Familie lukrieren kann.

1159Dollar

Monatsgehalt eines Mindestlohnverdieners.

40Prozent

Beschäftigungsquote; im Rest der USA sind es 63 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2015)

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