Griechenlands neue Zweiklassengesellschaft

GREECE ECONOMY CRISIS
GREECE ECONOMY CRISISAPA/EPA/ARMANDO BABANI
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Die Pensionisten zählen zu den großen Verlierern der Schuldenkrise. Ausgerechnet sie hat Premier Tsipras nun gegen sich aufgebracht.

Es sind Bilder von Verzweifelten, mit denen die griechischen Haushalte seit Tagen konfrontiert sind. Man erkennt Verwandte, Nachbarn. Die Bilder zeigen alte Menschen, die empört sind, sich gedemütigt und verraten fühlen. Erst am Freitag ist wieder ein alter Mann, Giorgos Chatzifotiadis, weinend vor einer Bank zusammengebrochen. Das Bild ging um die Welt, wurde tausendfach in sozialen Netzwerken geteilt.

In der schnellen Welt des 21. Jahrhunderts, in der jeder mit Smartphones hantiert und über Dutzende Plastikkarten verfügt, schien die Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras eines vergessen zu haben: dass in Griechenland zehntausende Menschen leben, die noch nie eine Bankkarte in der Hand gehabt haben und damit auch gar nicht umgehen können. Als die Regierung von einer Woche die Banken schloss und Kapitalverkehrskontrollen einführte, hatten viele alte Menschen überhaupt keine Möglichkeit mehr, an ihre Pensionen zu kommen, die in diesen Tagen überwiesen wurden.

Als die Regierung das Problem erkannte, kündigte sie an, eine bestimmte Zahl an Bankfilialen zu öffnen, um die älteren Menschen zu bedienen. Die Schalter sperrten allerdings erst am Mittwoch auf – zu diesem Zeitpunkt hatten einige Verzweifelte schon zwei Tage vor Bankinstituten campiert. Sie hatten irrtümlich angenommen, dass die Filialen schon aufsperren würden, wenn man sie vor der Tür warten sehe.

Die Dringlichkeit war verständlich: Am Ende des Monats ist von den schmalen Pensionen meist nichts mehr übrig. Und weil im Griechenland der Krise über 25 Prozent arbeitslos sind, muss eine Pension oft für mehrere reichen. Viele Erwachsenen sind auch aus Kostengründen in den vergangenen Jahren wieder in den elterlichen Haushalt gezogen. Mit den Schlangen an den Bankschaltern hat der Staat auch eine neue Zweiklassengesellschaft erschaffen: Wer über eine Karte verfügt, darf 60 Euro pro Tag abheben. Das ist zwar nicht viel, aber viel mehr als die 120 Euro pro Woche, die den Pensionisten ohne Karte zugestanden werden.


Enttäuschter Kriegsveteran. Doch selbst dieses Geld bekamen viele nicht, weil ein Erlass erging, wonach bis Ende der Woche die Pensionen in alphabetischer Reihenfolge ausgegeben würden. Da warteten bereits tausende Menschen vor den Banken. In ganz Griechenland machte das Bild eines Kriegsveteranen die Runde, der am Mittwoch, mit seinen Orden am Jackett, zur Bank hinkte und abgewiesen wurde: „Kinder, ich habe sieben deutsche Kugeln im Bein, ich kann mich nicht so lang anstellen!“, rief er. Dann kam er enttäuscht wieder aus der Bank heraus: „Sie haben mich abgewiesen, mein Buchstabe ist erst morgen dran.“

Die Pensionen der Freiberufler trudelten erst gegen Mittag ein – zu spät für viele, die sich schon in der Früh angestellt hatten. Als in mehreren Banken die Bedienung nach Alphabet wieder aufgegeben wurde, weil der Andrang zurückging und genug Luft blieb, um alle zu bedienen, waren viele von diesen Menschen schon wieder zu Hause. Die Bauern der ländlichen Gebiete hatten es besser. Da ihre Pensionen vom Postboten geliefert werden, bekamen sie das Geld ins Haus – und zwar die gesamte Pension auf einmal. Vieles weist darauf hin, dass es sich die Regierung Tsipras mit vielen der 2,7 Millionen Pensionisten in den vergangenen Tagen verdorben hat. Ein Paradoxon: Denn gerade wegen der geforderten Pensionskürzungen hat Syriza die Zustimmung zum Gläubigerpaket abgelehnt. Die Forderungen nach weiteren Kürzungen in Höhe von etwa etwa 900 Millionen Euro 2015 und 1,8 Millionen Euro 2016 gingen Tsipras zu weit. Er argumentierte, dass die Pensionisten in den Jahren 2010 bis 2014 schon genug zum Handkuss gekommen seien. Doch die Gläubiger beharrten auf Reformen im System, die den monatlichen Abfluss von Budgetmitteln stoppten. Griechenland ist das EU-Mitgliedsland mit den höchsten Ausgaben für Pensionen im Verhältnis zum gesamten Volkseinkommen (2013: 16,2 Prozent). Es gilt als unbestritten, dass das griechische Pensionssystem in der Vergangenheit zu großzügig angelegt war. Der Zeitpunkt für eine sanfte Anpassung wurde verpasst. Im Jahr 2000 wollte der damalige sozialistische Ministerpräsident, Konstantinos Simitis, gleich nach seinem Wahlsieg die Pensionsreform angehen. Es kam zu einem Generalstreik, Simitis nahm den Gesetzesentwurf zurück und entließ seinen Sozialminister. Hauptprofiteure des alten Systems waren Frauen. Dimitra beispielsweise, heute 75 Jahre alt, war eine erfolgreiche Schuldirektorin. Als im Jahr 1990 ein Regierungswechsel stattfand und sie fürchten musste, dass sie ihren Posten verlieren und damit auch Gehalts- und Pensionskürzungen erleiden könnte, ging sie mit 50 Jahren in Pension. Sie erfüllte die Kriterien: eine bestimmte Anzahl von Berufsjahren und noch nicht volljährige Kinder. Damit ging dem Staat nicht nur eine engagierte Lehrerin im besten Alter verloren, sondern auch eine Menge Geld, weil sie inzwischen seit 25 Jahren eine Pension bezieht.

Das unübersichtliche Pensionssystem mit Dutzenden Kassen ist in den vergangenen Jahren stark gestrafft worden, Kassen wurden zusammengelegt, Gelder gekürzt. Seit 2012 hat man halbwegs sichere Daten, seit 2014 kann man über das System Ilios monatlich die Zahl der Pensionisten und den Abfluss der Gelder verfolgen. Zurzeit hat Griechenland etwa 2,7 Millionen Pensionisten und gibt monatlich etwa 2,3 Milliarden Euro für sie aus. Das ergibt, mit allen Zulagen und unter Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge, durchschnittlich um die 850 Euro pro Person (inklusive Behindertenpensionen). Doch alle Kürzungen reichen dem Internationalen Währungsfonds nicht: Die enorm gestiegenen Arbeitslosenraten und die seit 2010 dramatisch zurückgegangenen Einnahmen aus den Pensionsbeiträgen, aber auch die zunehmende Alterung der Bevölkerung lassen das Pensionssystem zur Zeit als nicht lebensfähig erscheinen.

Weitere Kürzungen sind kaum zu vermitteln. Was soll man dem Fleischhauer sagen, der jahrzehntelang Monat für Monat seine Zusatzpension pünktlich eingezahlt hat und dem nun schon zwei Drittel der erwarteten monatlichen Gelder gekürzt worden sind? Für viele Griechen geht es um nicht mehr und nicht weniger als um das europäische Modell des Sozialstaates.

Die Regierung sagt indes nicht die ganze Wahrheit. Gleich zu Amtsbeginn hat sie zwei wesentliche Reformen zurückgenommen, die mit dem 1. Jänner 2015 schlagend geworden wären: Die Neuberechnung der Pensionszeiten mit längeren Berechnungszeiten und die Einführung des Nulldefizits bei den Zusatzkassen. Dazu kommt, dass 2010 bis 2012 reichlich Lücken für Frühpensionierungen offen gelassen wurden. Wer vor 1993 ins Berufsleben eingetreten ist und vor Ende 2010 seine Ansprüche anmelden konnte, fällt in das alte, großzügige Modell. So wird sich die 2010 beschlossene, stufenweise Anhebung des Pensionsalters auf 67 Jahre erst ab etwa 2021 positiv auf das Budget auswirken – zu langsam für die Gläubiger, die Sofortmaßnahmen verlangen, um das Budget kurzfristig zu sanieren und die enorme Staatsschuld schnell abzubauen.


Umstrittene Leistungen. Ein umstrittener Punkt in den aktuellen Verhandlungen ist auch eine Sozialleistung für Mindestrentner, die über Steuern finanziert wird. Die Gläubiger wollen dieses Leistungen stufenweise bis 2016 abschaffen, die Regierung Tsipras läuft dagegen unter dem Slogan „Keine Kürzungen von Mindestpensionen“ Sturm. Was man nicht dazu sagt, ist, dass das System zu vielen Ungerechtigkeiten geführt hat. Außerdem wird unterschlagen, dass die EU-Kommission die Idee des gesetzlichen Mindesteinkommens für alle berechtigten Bürger, inklusive Pensionisten, vertritt. Das Modell wurde seit 2014 in 15 Gemeinden versucht, im ersten Halbjahr 2015 sollte es flächendeckend angewandt werden. Der Vorteil liegt für viele in den klareren, auf Jahresbasis berechneten Aufwendungen. Für die Syriza-Politiker jedoch sind die Kriterien problematisch und die Summe um ein Vielfaches zu gering. So soll ein Berechtigter 200 Euro pro Monat bekommen, also 2400 Euro im Jahr.

Syriza hat ganz andere Vorstellungen davon, wie es das Pensionssystem finanzieren will. Die Partei will am Transfersystem, also an der Finanzierung der Defizite durch den Staat, festhalten, aber eine Reservekasse einrichten, die aus Einkünften, etwa aus dem Energiesektor, gespeist werden soll. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass dieses Modell bei den Gläubigern viel Anklang finden wird.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2015)

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