Athen: Gewaltsamer Protest gegen Reformpaket

GREECE PARLIAMENT ECONOMY CRISIS SYRIZA
GREECE PARLIAMENT ECONOMY CRISIS SYRIZA(c) APA/EPA/ALEXANDROS VLACHOS (ALEXANDROS VLACHOS)
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Die Abstimmung über den Pakt von Brüssel machte die Risse in der Regierungspartei deutlich. Auf Athens Straßen kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen.

Athen. Streiks sind selten geworden in Griechenland, seit das radikale Linksbündnis Syriza im Jänner die Regierungsgeschäfte übernommen hat. Es war also ein ungewohntes Bild, als am gestrigen wieder Tausende durch das Athener Zentrum zum Syntagma-Platz vor dem Parlament marschierten und es dort am Abend zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, die Tränengas einsetzen musste. Hunderte Menschen flohen vom Platz.

Am Tag der für die Nachtstunden anberaumten Abstimmung über das neue, von den Gläubigern erzwungene Maßnahmenpaket streikten die Beamten des öffentlichen Dienstes. Auch die Angestellten in der Selbstverwaltung und die Apotheker legten die Arbeit nieder. Der Gewerkschaftsbund machte diesmal jedoch nicht mit – angesichts der Gefahr eines ungeordneten Bankrotts hat er auf Pro-Europa-Kurs geschwenkt.
Im Laufe des Tages zeichnete sich jedoch ab, dass die Schockwellen des Abkommens der Regierungspartei in ihrer heutigen Form den Todesstoß versetzt haben. Das radikale Linksbündnis steht vor seiner Spaltung, wobei die Anhänger des Parteichefs Tsipras, zumindest in zentralen Parteiorganisationen, ihre Mehrheit verloren haben.

Am Nachmittag zirkulierte ein Schreiben von 108 Mitgliedern des Zentralkomitees der Partei, die zur Ablehnung des Brüsseler Abkommens aufriefen – das ist die Mehrheit im 201 Mitglieder zählenden Parteiorgan. Auch die Parteiorganisationen von Athen und Thessaloniki sind gegen das Abkommen. Neben den drei Ministern der parteiinternen Opposition, die ihren Posten wohl verlieren werden, haben zwei weitere Regierungsmitglieder ihren Rücktritt bekannt gegeben oder angekündigt – darunter Nantia Valavani, die wichtige Staatssekretärin im Finanzministerium. Auch Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou sprach sich am Mittwoch neuerlich vehement gegen das Paket aus.

Opposition stützt Tsipras

Die Zustimmung zu den Sparmaßnahmen war aufgrund der Stimmen der Sozialisten, der Konservativen und der Partei Potami zwar sichergestellt. Aber ab Donnerstag muss sich Premier Tsipras entscheiden, wie er von nun an regieren will. In einem Fernseh-Interview am Dienstagabend meinte er nur kryptisch, jeder seiner Abgeordneten müsse die Verantwortung seiner Handlungen selbst tragen. Es sei seine Verantwortung, dieses „schlechte Abkommen“ durchzusetzen, um das Land zu retten.
Varoufakis untersuchte Grexit-Szenarien

Eine scharfe Rede gegen die Abmachung hielt am Mittwoch Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis. Sein Hauptkritikpunkt war die Abwesenheit jeglicher Umstrukturierung der Schulden, was die Einigung ökonomisch nicht lebensfähig mache. Varoufakis zeigte sich vor allem skeptisch, ob das Paket überhaupt zustandekommen werde: Denn sollte der Internationale Währungsfonds (IWF) wegen der verschlechterten budgetären Situation und der weiter steigenden Schulden nicht bereit sein, bei dem Lösungspaket mitzumachen, dann wäre es auch dem europäischen Rettungsschirm (ESM) nicht erlaubt, aktiv zu werden (siehe Seite 1). Der frühere Finanzminister hatte zuvor in einem Interview erklärt, dass er von Ministerpräsident Alexis Tsipras den Auftrag erhalten hatte, Grexit-Szenarien zu untersuchen – als Reaktion auf den Vorschlag des deutschen Finanzministers, Wolfgang Schäuble, der einen zeitweisen Euro-Ausstieg ins Treffen geführt hatte. Das bestätigte Tsipras zwar in seinem TV-Interview. Allerdings habe er festgestellt, dass das Land nicht über genügend Devisen verfügt, um überleben zu können. Schon im Jahr 2010 war der Mangel an Bargeldreserven im Übrigen eine der Ursachen für die Akzeptanz des ersten Rettungspakets mit harten Sparauflagen, wie der sozialistische Ex-Finanzminister Giorgos Papandreou im „Presse“-Interview aufgedeckt hatte.

Zentralbankreserve beschlagnahmen?

Für Industrie- und Energieminister Panagiotis Lafazanis, dem Hauptverfechter der Drachmenpolitik in den Reihen von Syriza, besteht laut Berichten in der griechischen Tagespresse eine Alternative zu den „Erpressungen“ der Gläubiger: und zwar in der Beschlagnahmung der Währungsreserven der griechischen Zentralbank und der griechischen Münze, um in der ersten Phase einer Umstellung auf die Drachme genügend Finanzmittel für das Bestreiten der Staatsausgaben zur Verfügung zu haben.

Die von den Gläubigern geforderte Gesetzesvorlage wurde in nur zwei Artikeln zur Abstimmung gebracht. Artikel eins enthält den Text des gesamten Brüsseler Rahmenabkommens zwischen den Gläubigern und Griechenland. Artikel zwei enthält erste, schmerzhafte Einzelmaßnahmen wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Hotellerie auf 13 Prozent und in der Gastronomie auf 23 Prozent, die radikale Eindämmung von Frühpensionen sowie die Erhöhung der Körperschaftsteuer und eine Sondersteuer auf die Einkommen. Aber auch eine Stärkung der Unabhängigkeit des Statistischen Dienstes und Regelungen zum Versicherungssektor sind enthalten. Die Abstimmung fand – wie in Griechenland üblich – erst kurz vor Mitternacht Ortszeit statt: Vor wichtigen Voten tragen sich stets Dutzende Abgeordnete als Sprecher ein, um so durch einen Fernsehauftritt zumindest zu Bekanntheit im eigenen Wahlkreis zu gelangen. Die Debatte zieht sich deshalb in die Länge.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2015)

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