Interview: „Narzissmus ist verbreitet in der Hochfinanz“

File photo of workers relaxing during the lunch hour outside the Bank of England in the City of London
File photo of workers relaxing during the lunch hour outside the Bank of England in the City of LondonREUTERS
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Joris Luyendijk ergründet in „Unter Bankern“, wie Londons City funktioniert. Er erläutert perverse falsche Anreize, komplexe Produkte und die Charaktere, die diese Branche fördert.

Die Presse: Nach der Finanzkrise 2008 haben Sie 200 Menschen aus der Finanzwelt interviewt. Daraus entstand Ihr Sachbuch „Unter Bankern“. War es schwierig, diese Leute zum Reden zu bringen?

Joris Luyendijk: Es war extrem schwer. Wenn man eine Karriere in der Londoner City beginnt, wird einem deutlich gemacht, dass alles, was man öffentlich über seine Bank sagt, gegen diese verwendet werden kann – und wird. Wenn man also ohne Erlaubnis mit Journalisten spricht, kann das Folgen haben. Viele Interviewte waren höchst nervös, viele zogen ihre Zusagen zum Gespräch im letzten Augenblick zurück.

Eine der Befragten im Buch sagte, dass ihr das Gespräch wie eine katholische Beichte vorgekommen sei. Was sind die Todsünden in diesem Geschäftszweig?

Für einige Menschen ist die amoralische Natur der Hochfinanz nur schwer zu verkraften. Amoralisch bedeutet nicht, dass man die Gesetze bricht und das einem egal ist, sondern alles tun wird, was technisch noch legal ist, sogar, wenn man seine Klienten dabei belügt.

In der Finanzwelt gibt es Laster und Tugenden. Was sind die entscheidenden?

Zu den Tugenden zählt das echte Engagement dieser Leute, dass sie ihr Bestes geben. Sie alle scheinen wirklich hart zu arbeiten. Das größte Laster: Man kann oft richtig viel Geld verdienen, auf Kosten der Kunden oder auch der eigenen Bank. Im legalen Rahmen.

Was hat Sie bei der Erkundung des Bankenwesens überrascht, war neu für Sie?

Am meisten hat mich schockiert, dass es so viele perverse falsche Anreize gibt. Und die Insider wissen darum. Man würde doch annehmen, dass sie etwas gegen die schlechte Organisation der Finanzwelt tun würden.

Es gibt verschiedene Arten von Bankern. Welche haben die riskantesten Aufgaben?

Es gibt zwei Typen: die „masters of the universe“, die ihren Job als Rennen oder als Wettbewerb sehen. Die denken nicht darüber nach, was sie tun, sondern sie möchten einfach gewinnen, die größten Deals abschließen, den größten Handel machen, die komplexesten und lukrativsten Finanzinstrumente schaffen. Dann gibt es noch die Abgebrühten. Die meinen, solange sie sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen, könne man sie für nichts verantwortlich machen oder ihnen mit Moral kommen. Was glauben Sie, was passiert, wenn so ein Abgebrühter ein abenteuerlich komplexes Instrument kreiert, das die Meister des Universums dann zu verkaufen und so weit wie möglich zu verbreiten beginnen, sogar, wenn sie die Komplexität gar nicht verstehen? Das ist außerordentlich beängstigend.

Banker werden von vielen Leuten mit Gier assoziiert. Ist das tatsächlich die dominante Kraft in diesem Beruf?

Sie ist wichtig, so wie überall in der Gesellschaft. Aber unterschätzen Sie nicht die Angst davor, Status zu verlieren, sich unterlegen zu fühlen. Ich glaube, dass unser Bedürfnis nach Status wichtiger ist als nach Geld. Sie sind allerdings verbunden. Der Bonus bestimmt die Position in der Hierarchie.

Sind Ihnen bei Ihrer Recherche auch Psychopathen in der Hochfinanz begegnet?

Nein, aber das ist nachvollziehbar. Warum sollte ein Psychopath sich freiwillig einem Interview stellen. Narzissmus ist in der Branche viel weiter verbreitet. Psychopathen sind normalerweise impulsiv, während die Bankerkarriere enormen Konformismus erfordert – die wahnsinnig vielen Arbeitsstunden, das Kriechen vor den Chefs. Kriechen kann ein Narziss viel besser als ein Psychopath.

Was hat Sie bei der Recherche schockiert?

Dass die Finanzwelt weit gefährlicher ist, als den meisten bewusst ist, und der Finanzsektor 2008 beinahe die gesamte Wirtschaft zerstört hat. Vor allem aber hat man seither viel zu wenig getan, um die tieferen Gründe für die damalige Krise anzusprechen und das System zu reparieren. Den Insidern sind die Gefahren völlig bewusst, aber sie sind nicht fähig oder willens zu einem Systemwechsel.

Haben die Interviews Ihre Einstellung zu Geld oder gar Ihren Charakter verändert? Haben Sie einen Sparplan?

Ich glaube nicht, dass man sich auf ein finanzielles Armageddon vorbereiten kann. Nichts hat sich seit 2008 verändert. Ich versuche, mein Geld so rasch wie möglich auszugeben. Das ist übrigens ziemlich leicht, wenn man in London lebt. Die Mieten zahlt man pro Woche, nicht pro Monat.

Wagen wir eine Prognose: Wann kommt der nächste Big Bang in der Finanzwelt?

Viele sagen, dass es passiert, wenn wegen eines massiven Funktionsfehlers oder einer Terrorattacke eine systemische Bank keinen Zugang mehr zu den eigenen Daten hat. Das hätte Chaos zur Folge. Es könnte auch ein anderer Klassiker sein. Banken verlautbaren: „Leider haben wir so viel Geld (uneinbringlich) verliehen, dass wir nun wieder bankrott sind. Ja, das ist uns schon bei der Immobilienkrise in den USA und bei der griechischen Regierung passiert, aber wir haben es wieder getan! Die Europäische Bankenunion ist bereits pleite. Entschuldigen Sie bitte, aber könnten Sie das jetzt bezahlen?“

Gibt es europäische Politiker, die die Finanzkonstruktionen der Wall Street und der Londoner City verstehen?

Sicherlich! Schauen Sie sich doch nur die Vorschläge der Grünen im Europäischen Parlament an. Das ist keine Raketenwissenschaft. Sogar ein Siebenjähriger kann „perverse Anreize“ verstehen – nämlich als eine Belohnung für unerwünschtes Verhalten.

BESTSELLER AUS AMSTERDAM

Joris Luyendijk, geboren 1971 in Amsterdam, ist Journalist und Autor. In den Niederlanden ist sein Buch „Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt“ bereits ein Bestseller. Die deutsche Übersetzung von Anne Middelhoek ist 2015 bei Klett-Cotta erschienen (in der Reihe Tropen). Zum Treffen mit dem Autor lud der Verlag Journalisten nach Oxford ein, unter anderem auch von der „Presse“. [ Walter White ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2015)

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