Rousseff im perfekten Sturm

Rousseff speaks during the closing ceremony of the 'March of the Daisies' at the Mane Garrincha Stadium in Brasilia
Rousseff speaks during the closing ceremony of the 'March of the Daisies' at the Mane Garrincha Stadium in BrasiliaREUTERS
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Brasilien erlebt seine schlimmste Misere seit 25 Jahren. Der einst gefeierte BRIC-Staat wird wohl frühestens 2017 wieder wachsen – wenn er die aktuelle politische Krise halbwegs gut übersteht.

In einem Jahr werden in Rio de Janeiro die ersten olympischen Goldmedaillen überreicht. Doch momentan hat es den Anschein, als gebe es in Brasilien nur Verlierer. Die Landeswährung Real liegt bei 3,47 zum Dollar, nahe am historischen Tiefstwert von 3,59 aus dem März 2003. Ihren Höchststand erreichte die Währung Ende August 2011 mit 1,59 zum Dollar. Allein seit dem vergangenen Oktober, als Präsidentin Dilma Rousseff die Wiederwahl knapp gelang, hat der Real 42 Prozent seines Wertes verloren. Und es ist zu befürchten, dass diese Talfahrt noch weitergeht, denn es gibt derzeit keinerlei aufbauende Nachrichten.

Die Real-Schwäche verteuerte die Importe massiv, was wiederum die Inflation anfachte. Diese lag Ende Juli bei 8,9 Prozent, dennoch fürchten Marktbeobachter, dass sie noch weiter steigt. „Wir gehen davon aus, dass der Wert zu Jahresende bei etwa 9,6 Prozent liegt“, sagt Silvio Campos, Senior Economist bei der Wirtschaftsberatung Tendências in São Paulo. „Für viele Familien ist das fatal, weil ihr Einkommen sinkt, während der Arbeitsmarkt immer problematischer wird. Schon jetzt sind etwa acht Prozent der Brasilianer ohne Job.“ Lang herrschte in Brasilien fast Vollbeschäftigung, das war eines der Fundamente für die Wahlerfolge der Arbeiterpartei PT, die viermal in Folge die Präsidentschaft gewann, zuletzt vorigen Oktober.

Zinserhöhung ohne Effekt. Um die Inflation einzudämmen, erhöhte die Zentralbank Ende Juli den Leitzins um 50 Basispunkte, der Selic liegt bei 14,25 Prozent. Achtmal wurde der Zinssatz angehoben, ohne jedoch die erhoffte Wirkung zu erzielen. Die Effekte des fallenden Real waren stärker.

Die jüngste Talfahrt der Währung ist wohl vor allem die Folge politischer Ungewissheit. „Immer mehr Unternehmen und Investoren fragen sich, ob Präsidentin Rousseff im Kongress genug Rückhalt finden wird, um die notwendigen Kursänderungen durchzuführen“, sagt der Consultant Campos. Tatsächlich haben vor zwei Wochen zwei kleinere Koalitionsparteien Rousseffs PT die Zustimmung zum Sparprogramm des Finanzministers, Joaquim Levy, aufgekündigt. Zuvor hatte bereits der Kongresspräsident, Eduardo Cunha, vom größten Koalitionspartner PMDB verkündet, er sei von nun an Teil der Opposition.

Cunha zürnt, weil gegen ihn im Zusammenhang mit dem gigantischen Schmiergeldskandal um den Staatskonzern Petrobras ermittelt wird, der Brasiliens größtes Unternehmen nach eigenen Angaben um mehr als zwei Milliarden Dollar geschädigt hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat angekündigt, bald formell Anklage gegen Parlamentarier zu erheben. Gegen 54 Abgeordnete wird ermittelt.

Die Wut über die Korruption in Staat und Wirtschaft trieb voriges Wochenende 800.000 Brasilianer auf die Straßen des Landes. Viele Demonstranten forderten die Amtsenthebung der Präsidentin, deren Amtsführung inzwischen 71 Prozent der Bevölkerung ablehnen, so das Umfrageinstitut Datafolha. Dennoch gilt es derzeit als wenig wahrscheinlich, dass es zu einem Impeachment kommt, denn dafür wären zwei Drittel der Stimmen im Kongress erforderlich. Solange die Sonderermittler im Fall Petrobras keinen konkreten Verdacht gegen die Präsidentin vorbringen – vor zwei Wochen sagte einer der Emittlungsführer, man habe nichts Belastendes gegen die Präsidentin gefunden –, wird es wohl nicht genügend Voten geben. Zuletzt gab es mehrere Initiativen, um Rousseff zu stützen und die Republik vor einem Machtvakuum an der politischen Spitze zu bewahren. Senatspräsident Renan Calheiros legte eine parteiübergreifend formulierte „Agenda Brasil“ vor und Verbände von Industrie und Landwirtschaft schlossen einen „Pakt für die Regierbarkeit und gegen das Impeachment“.

Immer mehr Stimmen zweifeln am Nutzen einer Absetzung der Präsidentin. Jeder Nachfolger sähe sich mit demselben Dilemma konfrontiert: Ohne durchgreifendes Austeritätsprogramm werden die Ratingagenturen dem Land den Investment-Grade entziehen. In der Vorwoche senkte Moody's sein Rating auf Baa3, das ist die niedrigste Stufe mit Anlagebonität. Immerhin werten die Analysten von Moody's den Ausblick noch als stabil. Zuvor hatte Standard & Poor's, das Brasilien aktuell noch mit BBB– bewertet, seinen Ausblick auf negativ gesenkt. Das macht eine Herabstufung auf Ramschniveau im kommenden Jahr immer wahrscheinlicher. Dann wären höhere Zinsen für Regierung und Unternehmen wahrscheinlich, wenn sie sich Geld von Investoren leihen wollen. Auch würde weniger Geld ins Land fließen, weil viele Investoren keine Ramschpapiere kaufen dürfen. Eine Herabstufung würde zudem die Währung weiter unter Druck setzen, auch brasilianische Anleihen in Real dürften dann wohl an Wert verlieren.

Eine Bloomberg-Umfrage unter 15 Topökonomen ergab, dass mehr als zwei Drittel der Fachleute einen Verlust des Investment-Gradings befürchten. Doch selbst wenn es gelingen sollte, dieses zu erhalten, wird dem Land ein weiteres mageres Jahr bevorstehen. Für 2015 erwartet die Zentralbank eine Rezession von 2,01 Prozent, im kommenden Jahr wird weiter mit einem negativen Trend gerechnet. Um 0,15 Prozent könne die Wirtschaftsleistung 2016 schrumpfen, so die Zentralbank. „See you in 2017“ überschrieb BNP Paribas kürzlich ein Paper über die Aussichten unterm Zuckerhut.

„Die Marktverhältnisse in Brasilien sind außergewöhnlich schwierig“, sagte kürzlich Pierre Brondeau, der Chef des Chemiemultis FMC, der mit dem sinkenden Real ebenso zu kämpfen hat wie mit der rückläufigen Nachfrage nach Pflanzenschutzmitteln, was wiederum eine Folge des nachlassenden Rohstoffbooms ist.

Dieser ist, neben der angekündigten Anhebung der US-Zinsen, ein externer Faktor, den Brasilien nicht beeinflussen kann. Aber es kann – und muss wohl – jenen Schaden reparieren, den Rousseffs Staatswirtschaftsmodell in ihrer ersten Amtszeit angerichtet hat. Um den Konsum wieder anzufachen, gewährte der Fiskus Subventionen und Steuergeschenke, die teuer waren und obendrein ihren Zweck verfehlten. Im Vorjahr gab allein der Staat 42 Prozent des BIPs aus, und nun musste die Regierung etwa die hohen Energiesubventionen kürzen, was Unternehmen, aber auch Verbraucher massiv belastet.

Private haben hohe Schulden. Dass es Rousseffs erster Finanzminister Guido Mantega nicht vermochte, den Inlandskonsum anzukurbeln, hängt auch mit der inzwischen massiven Verschuldung der Privathaushalte zusammen. 55 Millionen Brasilianer, das entspricht 37 Prozent der erwachsenen Bevölkerung und einem Großteil derer, die überhaupt Geld ausgeben können, hatten im April Kreditkartenschulden. Nach Angaben der Zentralbank müssen brasilianische Konsumenten bereits 30 Prozent ihrer verfügbaren Einkünfte für den Schuldendienst abgeben. Zum Vergleich: In den USA liegt dieser Wert laut US-Notenbank bei fünf Prozent.

Wie so oft reflektieren die Finanzmärkte die Entwicklung. Der Bovespa-Index fiel im vergangenen Jahr – wie der Real – um 42 Prozent. Brasilianische Staatsanleihen rentieren inzwischen mit zwölf Prozent, allerdings hängen diese an der Landeswährung. Niemand weiß, wohin die Reise des Real geht.

Schwierige Lage

Brasiliens Währung Real befindet sich im freien Fall. Seit Oktober hat die Valuta 42 Prozent zum Dollar verloren. Die Wirtschaft des Landes wird sich auch im kommenden Jahr nicht erholen. Die Zentralbank rechnet auch für 2016 mit einer Rezession.

Nach den Massendemonstrationen des vorigen Sonntags haben sich nun Parlamentarier, aber auch Verbände formiert, um eine Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff zu verhindern. Ein Machtvakuum an der Staatsspitze könnte die ohnehin schwerfällige Reformagenda stoppen.

Die Ratingagenturen Standard & Poor's und Moody's haben ihre Bewertungen auf die unterste Stufe mit Anlagebonität gesenkt. Sollten die Reformen nicht vorankommen, drohen dem Land höhere Zinsen und ein Investitionsrückgang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

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