Wirtschaft: Wie die Ukraine einen radikalen Neustart wagt

A worker passes by near a new Antonov airplane at the Antonov aircraft plant in Kiev
A worker passes by near a new Antonov airplane at the Antonov aircraft plant in Kiev(c) REUTERS (GLEB GARANICH)
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Alle reden über den Konflikt mit Russland. Aber fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit sagen Quereinsteiger aus der Wirtschaft der Korruption und Oligarchenmacht den Kampf an.

Kiew. „Wir hatten kein Glück, aber das Unglück hat uns weiter geholfen“: Das alte ukrainische Sprichwort könnte zum Leitspruch einer neuen Ära werden. Die Ukraine hat kein Glück, fürwahr: 100 Tote am Maidan, der Verlust der Krim an den russischen Aggressor, der schwelende Krieg im Osten. Nach der Wende war das Pro-Kopf-Einkommen höher als in Polen, heute liegt es auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Den Staatshaushalt halten nur IWF-Kredite und ein Schuldenschnitt über Wasser. Im Februar gaben die Währungshüter die Griwna frei, der Wert der Landeswährung brach um die Hälfte ein. Die Folge: 45 Prozent Inflation, nach 25 Prozent im Vorjahr. Die Löhne aber bleiben gleich niedrig. Nur Not und Elend?

An diesen schönen Spätsommertagen liegt in Kiew anderes in der Luft: Aufbruchsstimmung. „Mein Land ist jetzt erst wirklich zur Welt gekommen, und jede Geburt ist mit Blut verbunden“, erklärt eine Fremdenführerin. „Die Kreativität explodiert“, sagt die Inhaberin eines neuen Lokals. „Wir stehen für die moderne Ukraine, unseren neuen Geist.“ Ein Hoffnung, die bald verfliegen muss, so wie nach der Orangen Revolution? Unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit hat das gebeutelte Land einen politischen Neustart gewagt. Junge Quereinsteiger aus der Wirtschaft, zum Teil Ausländer, sagen der Korruption und der Macht der Oligarchen mit dem Mut der Verzweiflung den Kampf an.

Einer von ihnen ist Aivaras Abromavicius. „Früher musste man für einen Besuch beim Wirtschaftsminister zahlen, je nach Anliegen 3000 bis 10.000 Dollar“, erzählt der aktuelle Amtsinhaber grinsend. Der Investmentbanker kommt aus Litauen und wurde erst Stunden vor seiner Angelobung eingebürgert. 200 Dollar verdient der 39-Jährige im Monat, er arbeitet quasi ehrenamtlich. Als Erstes hat er neun von zehn Mitarbeitern in den oberen Reihen gefeuert und mit Externen aus der Privatwirtschaft besetzt. „Mit den alten Leuten kann man keine Reformen umsetzen. Selbst wenn sie nicht korrupt sind, blockieren sie jede Änderung.“ Die Neuen: Das ist die Regierung von Premier Jazenjuk, Präsident Poroschenko, die Führung der Notenbank. Aber auch Vitali Klitschko, der als Bürgermeister von Kiew in den Ring gestiegen ist und Reformen durchboxt.

Kritik an Spindeleggers Initiative

Sie alle krempeln den Staat um, als sei er ein bisher mies geführtes Unternehmen. Die öffentliche Beschaffung, berichtet Abromavicius, läuft ab Oktober transparent über Internet. „Zehn Prozent kostet uns die Korruption, zehn Prozent die Ineffizienz“, rechnet der Minister vor. Geplante Einsparung: zwei Mrd. Euro pro Jahr. Die Reformer sind voller Ungeduld: Im Justizsystem „geht zu wenig weiter“, das Gesetz aus dem Frühling zeige keine Wirkung. „Die Bösen müssen hinter Gitter“, sonst kommen die Investoren nicht. Auf sie gründet sich alle Hoffnung. Die Finanzministerin Natalie Jaresko, US-Bürgerin mit ukrainischen Wurzeln, zieht eine radikale Steuerreform durch. Die Sozialsteuer, die Firmen auf ihre Lohnsumme zahlen, soll in Kürze von 41 auf 20 Prozent sinken.

Was wie ein radikal liberaler Ansatz klingt, ist für Abromavicius der Ausweg aus einem verrotteten System. „Deregulierung“, das bedeute in der Ukraine: „Die Millionen aus den Taschen korrupter Beamter zurück in die Wirtschaft bringen.“ Auch das Ende der Gassubventionen, durch die Heizen vier Mal so teuer wurde, sei gegen Korruption, Raub aus den Rohren und illegalen Handel gerichtet, „nicht gegen die Armen“, die nun gezielte Hilfe beantragen können. Und die Privatisierungen? Knapp 700 Mio. Euro sollen sie heuer einbringen, „aber an Oligarchen verkaufen wir nichts mehr“. Gegen sie ist auch ein anderer Befreiungsschlag gerichtet: Die Nationalbank hat von 170 Banken 58 zugesperrt – „das hat noch kein Land jemals gemacht“. Der Hintergrund: Oligarchen hatten sich kleine Institute „als ihren persönlichen Bankomaten“ gehalten, sagt Suma Chakrabarti von der Osteuropa-Entwicklungsbank in London. Auch der EBRD-Chef sieht nun Licht am Ende des Tunnels.

Und die Reforminitiative von außen, der Österreichs Ex-Vizekanzler Spindelegger vorsteht und die der Oligarch Dimitri Firtasch finanziert? Dafür hat der Minister in Kiew nur Verachtung übrig: „Wir wollen unser Land neu aufbauen, ohne den Einfluss von Leuten, die ihr Vermögen auf zweifelhafte Weise angehäuft haben“. Freilich bleiben bei allem Reformwillen bange Zweifel: Gelingt es, die breite Masse damit von oben zu infizieren? Wann verlieren die Reformer die Geduld und kehren zu ihren hoch dotierten Jobs im Ausland zurück? Und wie geht es im Konflikt mit Russland weiter? Wie auch immer die Wetten ausgehen: Ein gutes Stück hat das Unglück der Ukraine schon weitergeholfen.

Compliance-Hinweis

Die Reise in die Ukraine erfolgte auf Einladung der Uniqa.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2015)

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