Immer mehr gut ausgebildete Russen verlassen das Land

File photo of people walk on a street in the town of Nizhny Novgorod, Russia
File photo of people walk on a street in the town of Nizhny Novgorod, RussiaREUTERS
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Vor allem Banken und High-Tech-Betriebe sind von der Abwanderungswelle betroffen. Hochqualifizierte Fachkräfte sehen wenig Hoffnung im Land weiterzukommen.

Den größten Teil der vergangenen zehn Jahre hat Igor Gladkoborodow damit verbracht, sich in der dynamischen Moskauer Hightech-Branche nach oben zu arbeiten. Von einem Web- Entwickler wurde er zum Gründer eines Online-Video-Startups, das umgerechnet 3,5 Mio. Dollar Kapital einsammelte. Aber im August kehrte er Moskau den Rücken und zog nach Menlo Park in der kalifornischen Hightech-Region Silicon Valley um.

Mit seiner Ausreise folgt er dem Beispiel vieler gut qualifizierter russischer Berufstätiger, die angesichts der Rezession, der zunehmenden internationalen Isolierung des Landes und der stärkeren Regulierung des Internets Russland verlassen. "Vor fünf Jahren hatten wir noch Hoffnung, dass es eine Wende zum Besseren geben würde", sagt der 32-Jährige, der mit Frau und zwei kleinen Kindern umgezogen ist. "Jetzt ist klar, dass Russland einer langen systemischen Krise gegenübersteht", führt er aus. Im Silicon Valley treffe er regelmäßig auf andere Moskauer, die Russland verlassen hätten.

USA, Deutschland und Israel als Zielländer

Laut offiziellen Statistiken haben im vergangenen Jahr
53.235 russische Bürger dem Land für immer oder für mehr als neun Monate den Rücken gekehrt, elf Prozent mehr als im Vorjahr und die höchste Zahl seit neun Jahren. Deutschland, die USA und Israel verzeichnen steigende Antragszahlen für Einwanderungs- Visa aus Russland.

Offiziell macht sich der Kreml keine Sorgen wegen einer Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte. Aber in einem Land mit langer wissenschaftlicher Tradition, das jetzt auf gut ausgebildete Arbeitskräfte und moderne Technologie setzt, um seine Abhängigkeit von Rohstoffen zu verringern, ist eine solche Abwanderung ein heikles Thema. Im Juni forderte Präsident Wladimir Putin harte Maßnahmen gegen ausländische Gruppen, denen er vorwarf, sie arbeiteten wie "Staubsauger", um Studenten in die Emigration zu locken. In den letzten 18 Monaten haben die Ausreisen von Akademikern markant zugenommen, wie Wladimir Fortow, Präsident der russischen Akademie der Wissenschaften, im März im Staatsfernsehen erklärte.

Keine Kapitalmärkte mehr

Nicht nur dem Hightech-Sektor, der in der zweiten Präsidentschaft Putins mit zunehmenden Restriktionen kämpfen muss, laufen die Beschäftigten davon. Auch im Finanz- und Rechtsbereich wandern Fachkräfte ab, wie Anwälte und Berater berichten. Witali Bajkin hat seine Stelle bei der Gazprombank, einer der vom Westen mit Sanktionen belegten Banken, aufgegeben, um in New York Wirtschaft zu studieren. "Die Kapitalmärkte in Russland existieren nicht mehr", erklärt der 32-jährige per Telefon am Tag vor seiner Abreise. "Ich sehe nicht, wie sich die Situation in den kommenden Jahren verbessern kann."

Eli Gervitz, ein Rechtsanwalt in Tel Aviv, der seit Ende der 1990er Jahre russischen Juden dabei hilft, die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten, verzeichnet seit der Annexion der Krim durch Russland im März 2014 eine deutlich höhere Nachfrage nach seinen Dienstleistungen. "Mehr als 90 Prozent derer, die jetzt zu uns kommen und einen israelischen Pass wollen, sind wirtschaftlich erfolgreich und vermögend", erklärt er. Auch wenn die Zahl der Einwanderer hinter den Spitzenwerten zurückbleibe, die nach Auflösung der Sowjetunion in den 1990er Jahren erreicht wurden, "sind wir schon deutlich darüber, wenn wir den Geldfaktor messen", also das Vermögen der Auswanderer, führt er aus.

Mehr Anträge auf neue Staatsbürgerschaft

Laut dem israelischen Ministerium für die Aufnahme von Einwanderern haben sich die Anträge auf Staatsbürgerschaft seit Anfang dieses Jahrtausends verdoppelt. Sie liegen demzufolge auch 30 Prozent höher als bei der bisher letzten Rezession Russlands 2009.
Auch die Zahl der politischen Emigranten ist gestiegen, seit der Kreml hart gegen oppositionelle Politiker und unabhängige Medien vorgeht.

"Die Politik des Kreml stellt die gebildete Klasse vor die Wahl, entweder sich unter der Fahne des Krieges gegen den Westen zu versammeln oder das Land zu verlassen", konstatiert Alexander Morosow. Der Politikwissenschaftler aus Moskau hat in diesem Jahr seine Rückkehrpläne nach Russland aufgegeben und ist nach einem vorübergehenden Arbeitsaufenthalt in Tschechien nach Deutschland gezogen.

Staatlicher Einfluss steigt

Im Hightech-Sektor macht sich der Druck von oben unter anderem in Gesetzen bemerkbar, die es Aufsichtsbehörden gestatten, den Zugang zu Websites zu blockieren, sowie in strafrechtlichen Ermittlungen wegen angeblicher finanzieller Vergehen bei Skolkowo, einem einem zu Zeiten von Dmitri Medwedew, Putins Vorgänger im Präsidentenamt, gegründeten Innovationszentrum und Start-up-Inkubator. Skolkowo entwickle sich zu einem "Emigranten-Inkubator", kommentiert Maxim Kiseljow, ein ehemaliger hochrangiger Manager bei Skolkowo.

Für Gladkoborodow spielten auch die flaue Konjunktur und die begrenzten Wachstumschancen für sein Unternehmen eine Rolle bei der Entscheidung fürs Auswandern. Als Unternehmer im Hightech-Bereich sehe er die Verschärfung der Internetaufsicht als besonders besorgniserregend an. "Es ist Unsinn, sich auf ein russisches Publikum zu konzentrieren, da unsere Website jederzeit ohne Gerichtsurteil abgeschaltet werden könnte", erläutert er.

Auch die Atmosphäre in Russland seit Beginn des Ukraine- Konfliktes und das Erstarken konservativer und religiöser Gruppen hätten seine Befürchtungen verstärkt, führt er aus. "Ich wollte meine Kinder nicht in einem Land großziehen, das sich mit hoher Geschwindigkeit in Richtung orthodoxer Taliban bewegt", sagt er mit Bezug auf religiöse Aktivisten, die moderne Kunstwerke in Moskau als gotteslästerlich angegriffen haben. Noch könne er es sich nicht leisten, die restlichen Angestellten seines Unternehmens "Coub" in die USA zu bringen, aber er hoffe, dass dies bald möglich sei. "Keiner wird nicht umziehen wollen", ist er sich sicher.

(Bloomberg)

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