Konjunktur: Die Flucht aus den Schwellenländern

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Zum ersten Mal seit 1988 wird heuer netto Geld aus den Schwellenländern abfließen. Die Währungsreserven schrumpfen. Wenn die Fed die Zinsen hebt, könnte sich das beschleunigen.

Wien/Washington/Peking. Eigentlich sollten die Zinsen jetzt schon wieder steigen – zumindest in den USA, wo die Wirtschaftsdaten dies rechtfertigen würden. Eigentlich hätte die US-Zentralbank Federal Reserve diese Zinswende nach sieben Jahren im September einleiten sollen. Eigentlich. Aber im September geschah nichts. Dass es nun im Oktober zum Zinsschritt kommen wird, gilt jetzt als unwahrscheinlich. Die Nullzinsen bleiben uns also erhalten. Aber warum? Weil die Federal Reserve in einem Dilemma steckt. Und mit ihr die Weltmärkte.

Es ist so: Nach sieben Jahren enorm lockerer Geldpolitik hat die Federal Reserve den ersten Schritt in Richtung „Normalisierung“ tatsächlich schon 2013 gesetzt – als sie die dritte Runde ihres Anleihenkaufprogramms, Quantitative Easing, auslaufen ließ. Die Folge war das sogenannte Taper Tantrum – eine negative Überreaktion der Märkte – gekennzeichnet von Kapitalabflüssen aus den (rasch wachsenden) Schwellenmärkten. Zwei Jahre später kommt es zur zweiten Auflage dieser Panik, denn die Fed will die Zinsen noch immer in diesem Jahr erhöhen.
Daten des im Auftrag internationaler Banken forschenden Institutes of International Finance zufolge wird es heuer zum ersten Mal seit 1988 (!) zu einem Netto-Abfluss von Kapital aus den Schwellenländern kommen.

Die Schulden wachsen . . .

Die Kluft ist enorm. Kam es 2014 noch zu einem Kapitalzufluss von rund 30 Mrd. Dollar, wird heuer ein Abfluss von mehr als 500 Mrd. Dollar erwartet. An der Flucht aus den Schwellenländern beteiligen sich sowohl institutionelle wie auch private Investoren, sagte IIF-Chefökonom Charles Collyns.

Dazu kommt das Problem der gegenüber dem Dollar scharf abwertenden Währungen in Ländern wie China, Russland, Brasilien oder der Türkei. Laut IIF hat sich die Schuldenbelastung der Unternehmen in Brasilien durch die Abwertung des Real um 7,3 Prozent des BIPs erhöht – weil viele Firmen in ausländischen Währungen verschuldet sind. Sollte es zu einem Zinsschritt der Fed kommen, könnte der Dollar weiter steigen – und mit ihm die Belastung für brasilianische oder türkische Unternehmen, für die die Schuldenlast laut IIF um 6,2 Prozent des BIP gestiegen ist.

Ein weiterer Faktor: Die Zentralbanken greifen zur Verteidigung ihrer Währungen tief in die Reserven. Die Deutsche Bank hatte deswegen schon Anfang September die „Ära der großen Akkumulation“ für beendet erklärt. Seit 2014 sinken die Währungsreserven, da die Zentralbanken der Schwellenländer zur Stärkung ihrer eigenen Währungen Dollars verkaufen.

. . . die Reserven schrumpfen

Und da geht es nicht um kleine Summen: Der Berg an globalen Reserven ist von 2007 bis 2014 von vier auf zwölf Billionen US-Dollar angewachsen. Bis Ende 2016 soll er laut Deutscher Bank aber wieder um 1,5 Billionen gesunken sein.

Und da ist das Problem, denn der Abverkauf der Reserven zur Verteidigung der Währung hat einen deflationären Effekt. Reserven entstehen, wenn Zentralbanken den heimischen Unternehmen Dollars oder Euros abkaufen – mit frisch gedruckter Landeswährung. Dadurch kommt es zur Inflation, da das Geld de facto verdoppelt wird. Wenn dieselbe Zentralbank Dollars verkauft, um Landeswährung „aufzusaugen“, ist das (für die Landeswährung) deflationär.

Auch wenn einige Zentralbanken ihre Zügel inzwischen gelockert haben und zu einem „Free Float“-System übergegangen sind – ein Zinsschritt der Fed wird den Schwellenländern das Leben in jedem Fall weiter erschweren – und mit ihnen der Weltkonjunktur. (jil)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2015)

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