Die bittere Armut geht stark zurück

Auch wenn jeder bitter Arme immer noch einer zu viel ist: Der Rückgang des Elends ist eine globale Erfolgsgeschichte.
Auch wenn jeder bitter Arme immer noch einer zu viel ist: Der Rückgang des Elends ist eine globale Erfolgsgeschichte.(c) EPA (STR)
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Erstmals in der Geschichte sinkt die Zahl der extrem Armen heuer unter zehn Prozent der Weltbevölkerung. Die größten Fortschritte gab es zuletzt in Indien, die geringsten in Afrika.

Wien/Washington. Die Schlagzeilen sind düster: Flüchtlingskrise, Kriege, wirtschaftliche Sorgen um China und Brasilien. Da kommt eine Nachricht zu leise daher, die eigentlich alle übertönen sollte. Denn sie zeichnet das große Bild, den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit: Erstmals in der Geschichte sinkt heuer der Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung unter zehn Prozent, meldet die Weltbank. Unter extremer oder absoluter Armut versteht die Organisation, die sie bekämpfen soll, ein Leben, das nur ein Kampf ums Überleben ist. Die Zahl der Betroffenen sinkt schon länger dramatisch: 1990 waren es noch fast zwei Mrd. Menschen, nun sind es 700 Mio. Damit klingt das wichtigste der neuen Millenniumsziele, die die UNO jüngst postuliert hat, weniger utopisch: dass extreme Armut und Hunger bis 2030 Geschichte sein und von diesem Planeten verschwinden soll.

Neue Schwelle: 1,90 Dollar

Der Erfolg des vergangenen Vierteljahrhunderts ist vor allem der Öffnung Chinas für Marktwirtschaft und Welthandel zu verdanken – und damit der oft gescholtenen Globalisierung. In Ostasien ging die extreme Armut weitaus am stärksten zurück. Seit vier Jahren sorgt Indien für die größten Fortschritte. In Afrika südlich des Äquators sind sie deutlich geringer – was auch mit hohen Geburtenraten zu tun hat. Damit hat sich die Verteilung drastisch verändert: 1990 lebte die Hälfte der absolut Armen in Ostasien, nur 15 Prozent in Afrika. Heute ist es fast genau umkehrt, mit zwölf zu 50 Prozent.

Die nun für 2015 publizierten Zahlen beruhen auf Schätzungen und Prognosen; endgültige gibt es erst in zwei bis drei Jahren. Dass die Weltbank sie dennoch an die große Glocke hängt, hat einen Grund: Sie hat den Grenzwert angepasst, an dem sie absolute Armut festmacht, und möchte zeigen, dass damit kein Bruch einhergeht. Als extrem arm gilt nun ein Mensch, der mit 1,90 Dollar am Tag auskommen muss. Zuletzt (seit 2009) lag die Schwelle bei 1,25 Dollar, also deutlich niedriger. Das mag erstmal jene beruhigen, die diesen Wert für willkürlich und ohnehin viel zu niedrig halten.

Tatsächlich steht dahinter ein komplexes Kalkül. Ausgangspunkt war 1985 „ein Dollar pro Tag“. Wie kam die Weltbank darauf? Indem sie nationale Schwellen, unter der das Überleben in Frage steht, für 15 typische arme Länder bestimmte und daraus einen Mittelwert (Median) bildete. Nach Kaufkraft in Dollar umgerechnet ergab das damals ziemlich genau einen Dollar, weshalb man auf diesen Betrag rundete. Das Entscheidende dabei ist die Umrechnung in Kaufkraftparitäten. Warum nicht einfach mit dem Kurs der Landeswährung? Nicht international handelbare Güter – vor allem lokale Dienstleistungen – sind in Entwicklungsländern viel billiger, weshalb deren Kaufkraft relativ zu den USA höher ist, als es die Wechselkurse anzeigen. Aber dieses Verhältnis ändert sich; die Weltbank ermittelt es zusammen mit nationalen Statistikern.

Ein einbetoniertes Konzept

Eine jährliche Messung wäre aber zu aufwendig. Die letzte Festlegung der Kaufkraftparitäten, die zur 1,25-Dollar-Schwelle führte, lag schon zehn Jahre zurück. Seit dem Vorjahr liegen nun neue Daten vor, und auf ihrer Basis hat die Weltbank die Schwelle nun auf 1,90 Dollar aktualisiert. Dass sie steigt, zeigt nur an, dass die Kaufkraft des Dollars relativ zu der in den ärmsten Länder gesunken ist. Mit Inflation hat es nichts zu tun. Sie wird jedes Jahr in einem zweiten Schritt je Land berücksichtigt, wenn die Zahl der Armen berechnet wird.

Freilich gibt es auch Kritik am Konzept. Die wichtigste: Sowohl Kaufkraft als auch Verbraucherpreisindex berücksichtigen alle Güter, auch Dienstleistungen, die sich ein extrem Armer nie leisten kann. Man müsste also einen Korb zusammenstellen, der fast nur Grundnahrungsmittel und Kleidung enthält. In diese Richtung gehen die Tüftler in Washington nun bei der Berechnung der Inflation für zehn Länder. Zu stark will die Weltbank aber nicht am Konzept rütteln. Denn da die Politik sich stark an den Zahlen orientiert, sollen sie vergleichbar bleiben.
Auch wenn Kritik im Detail berechtigt sein mag: Der sehr positive Trend steht fest. Und er ist, bei allen Hiobsbotschaften dieser Tage, ein Grund zur großen Freude.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2015)

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