Warum den Ökonomen die Flüchtlingskrise keine Angst macht

FL�CHTLINGE: WARTENDE FL�CHTLINGE AN DER GRENZE ZU DEUTSCHLAND
FL�CHTLINGE: WARTENDE FL�CHTLINGE AN DER GRENZE ZU DEUTSCHLAND(c) APA/BARBARA GINDL (BARBARA GINDL)
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Trotz vieler düsterer Prognosen bleiben Wirtschaftsforscher in der Flüchtlingskrise seltsam gelassen. Sind sie blauäugig? Oder wissen sie mehr?

Wien. Sie kamen in Massen, auf überfüllten Booten. Im Sommer 1980 flohen 125.000 Kubaner vor Castros Kommunismus nach Florida. Die Hälfte blieb in Miami. Das Arbeitsangebot in der Stadt erhöhte sich schlagartig um sieben Prozent. Für Bevölkerungsökonomen war die Mariel-Bootskrise ein gefundenes Fressen. Hier konnten sie die Effekte von Migration wie im Experiment beobachten, ungemischt mit anderen Einflüssen. Das lenkte ihr Denken auf neue Fährten.

„Die Theorie kann eindeutig belegen“, dass „offene Grenzen zu mehr Wohlstand für alle“ führen: Das schreibt heute Thomas Straubhaar, langjähriger Leiter des HWWI (Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut), in einem Text, der der „Presse“ vorab vorliegt. Menschen gehen dorthin, wo sie produktiver sein können, und steigern so die Wertschöpfung der Welt. Klingt gut, in der Theorie. Aber wie ist die Praxis? Traditionelle Modelle rechneten mit vorübergehend höherer Arbeitslosigkeit und niedrigeren Löhnen unter den Einheimischen. Also mit kurzfristigen Folgen, die politisch unzumutbar sein können. Das aber fand in Miami nicht statt: Die Folgen waren sehr schnell null oder leicht positiv. Eine Hundertschaft an Studien folgte, die das überraschende Ergebnis in anderen Settings abklopften – und meist bestätigten.

Kein Thema für links oder rechts

Das blieb nicht ohne Wirkung. In einer Umfrage von 2013 sprachen sich sämtliche führende US-Ökonomen für stärkeren Zuzug gut qualifizierter Migranten aus, eine deutliche Mehrheit auch für den von niedrig qualifizierten. Ausgerechnet bei diesem heißen Thema ist sich die so oft in links und rechts gespaltene Zunft ziemlich einig. Das erklärt, warum auch heimische Volkswirte in der Flüchtlingskrise seltsam gelassen bleiben. Natürlich geht es hier primär um anderes: das Recht auf Asyl. Aber die Frage nach den Folgen stellt sich. Die Schlagzeilen klingen düster: Zu den Kosten kursieren Horrorzahlen, die Arbeitslosenquoten unter vergleichbaren früheren Flüchtlingen waren sehr hoch. Wie passt das zum Optimismus der Akademiker? Zunächst: Ökonomen fallen nicht auf die „Lump of Labour Fallacy“ herein, die Täuschung, die benötigte Menge sei bei der Arbeit so starr wie bei anderen Gütern. Populär gesagt: dass Ausländer uns die Arbeit wegnehmen. Die Intuition ist so naheliegend wie falsch. Es ist der gleiche Irrtum, dem Maschinenstürmer aller Zeiten erliegen: Auch neue Technologien haben bisher noch nie zu Massenarbeitslosigkeit geführt. Und wegen desselben Denkfehlers hat sich Frankreich mit der 35-Stunden-Woche eine blutige Nase geholt: Die „gerechtere Aufteilung der Arbeitszeit“ hat nicht zu weniger Arbeitslosen geführt, sondern zu mehr.

Warum aber wird der Kuchen bei Einwanderung größer? Ein Grund ist trivial: Neue Mitbürger mieten Wohnungen, kaufen Essen und schließen Handyverträge ab. Mehr Menschen, mehr Nachfrage. Und mehr Wachstum? Wissenschaftler sind vorsichtig: Bei einem so komplexen Phänomen wie der BIP-Entwicklung lässt sich echte Kausalität kaum nachweisen, wohl aber Korrelation. Also: Zuwanderung wird meist von Wachstum begleitet. Krisen löst wohl eher aus, wenn die Zahl der Menschen schrumpft, wie etwa in Süditalien. Der IWF sieht den Kindermangel auch schon als Grund für die Wachstumsschwäche von Japan und Europa.

Die Lehren aus anderen Ländern

Und das Pro-Kopf-Einkommen? Wenn nur Zuwanderer den Schnitt drücken, ist das noch kein Problem. Wenn Einheimische weniger verdienen, sehr wohl. Das ist zwar nicht zu erwarten, zeigen die Studien. Aber ihr Fazit gilt nur im Schnitt. Für die Mehrheit sind Arbeitsangebot und Güternachfrage der Migranten komplementär, sie profitieren davon. Aber Migranten konkurrieren mit denen, die selbst wenig gelernt haben, auch früher Zugezogenen. Das kann zur „Umverteilung von unten nach oben“ führen, warnt Rudolf Winter-Ebmer von der Uni Linz. Er empfiehlt, Geringverdiener zu entlasten. Die Idee dahinter: Wenn die Gesellschaft letztlich als Ganzes profitiert, kann sie sich das leisten.

Zur Verdrängung muss es aber nicht kommen. Eine Studie aus Dänemark, unter Ägide des führenden Migrationsökonomen Giovanni Peri, zeigte jüngst einen anderen Effekt: Die neue Konkurrenz zwang dänische Low-Skills-Arbeiter dazuzulernen. Sie stiegen die soziale Leiter hinauf. Die Untersuchung ist auch deshalb interessant, weil es um Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten geht. Was ist nun beim aktuellen Flüchtlingsstrom so anders? Nicht die große Zahl in kurzer Zeit – siehe Mariel-Krise, aber auch andere Beispiele aus der Geschichte:
Gleich nach dem Fall der Sowjetunion wanderten über eine Million Juden aus früheren Ostblockstaaten nach Israel aus. Die Bevölkerung stieg um zwölf Prozent. Aber es war der Start des israelischen Booms.
4,5 Millionen Deutsche aus Ostgebieten flohen mit Ende des Zweiten Weltkriegs in die Bundesrepublik. Sie wirkten tatkräftig am deutschen Wirtschaftswunder mit.
Als die französischen Kolonien unabhängig wurden, strömten über eine Million Nordafrikaner nach Frankreich. In den „drei glorreichen Dekaden“ war das kein Problem.

Freilich: Die russischen Juden hatten großteils einen Uni-Abschluss, die „Aussiedler“ sprachen meist Deutsch, die „Pieds Noirs“ Französisch. Allen war die Kultur des Ziellandes vertraut. Flüchtlinge aus Syrien hingegen müssen Sprache und auch Schrift erst lernen. Wer Krieg und Verfolgung erlebt hat, ist oft traumatisiert. Das Gros konkurriert also vorerst gar nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern ist lang arbeitslos und von Hilfe abhängig. Anders als früher leben wir in üppigen Wohlfahrtsstaaten. Die Sozialsysteme sind so teuer, dass bei starken Belastungen Schuldenkrisen drohen – und damit indirekt doch wirtschaftliche Schocks. Und hier spielen Anzahl und Frist sehr wohl eine Rolle.

Belastung für Staat, Nutzen fürs Land

Kurz vor dem aktuellen Ansturm debattierten deutsche Forscher darüber, ob Zuwanderer in öffentliche Kassen mehr einzahlen oder herauskriegen. Kommen Menschen ins Land, braucht es mehr Lehrerinnen und Ärzte, aber nicht mehr Soldaten. Je nachdem, ob man Migranten nur variable oder auch fixe Kosten anteilig zurechnet, ist die Bilanz positiv oder negativ. Zu Vollkosten rechnet Hans-Werner Sinn, der Migration als staatliches Verlustgeschäft sieht. Aber der Staat ist nicht das ganze Land, wie auch Sinn betont – weil „die Haupteffekte gar nicht über den Staat laufen, sondern sich auf dem Arbeitsmarkt abspielen“. Deshalb „nützen die Migranten den Deutschen in ihrer Gesamtheit“.

Humanitäre Pflicht, positives Potenzial, hohe Kosten der Anpassung – aus diesem Mix ergibt sich für Ökonomen das Fazit: Wir müssen Flüchtlinge möglichst rasch zum Arbeiten bringen, auch wenn das teure Investitionen bedeutet. Dazu kommt: An „fortgesetzter Massenimmigration“ führt auch für Sinn „kein Weg vorbei“, um den „Bevölkerungsschwund auch nur halbwegs auszugleichen“. Freilich wünscht er sich fertige Facharbeiter und Spitzenkräfte. Thomas Bauer, Vizechef des RWI (Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung), zeigt sich im „Presse“-Gespräch skeptisch: „Wir hätten am liebsten nur gesteuerte Zuwanderung. Aber für Fachkräfte sind wir nicht attraktiv genug. In den USA, Kanada und Australien verdienen sie mehr und haben keine Sprachprobleme.“ Deshalb hat Deutschland die nötige Nettozuwanderung von 500.000 Menschen pro Jahr selten erreicht. Jetzt ist sie da, anders als erhofft. Und der Auftrag, den Ökonomen darin sehen, ist ganz einfach und sehr schwer: das Beste daraus zu machen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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