Das serbische Trauma des Jobverlusts

(c) AP (Srdjan Ilic)
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Nicht einmal ein Drittel der Serben geht einer steuerpflichtigen Arbeit nach. Fast jeder zweite davon bangt um seinen Arbeitsplatz. Die Angst vor einer Wiederholung der entbehrungsreichen Neunzigerjahre sitzt tief.

Belgrad. Die Not treibt in Serbien selbst beschäftigte Arbeitnehmer auf die Straße. Aufgebracht drängten die seit acht Monaten auf ihre Bezahlungen wartenden Arbeiter des Baukombinats „1.Maj“ im zentralserbischen Lapovo in Richtung Autobahn. Nur das starke Polizeiaufgebot vermochte in dieser Woche die Totalblockade des wichtigsten Transportwegs zwischen Belgrad und Nis zu verhindern. Schließlich legten sich die verzweifelten Arbeiter auf die nahen Eisenbahnschienen. „Mit unserem Tod erleichtern wir den Wirtschaftshaien ihre Arbeit“, lautete die düstere Botschaft ihrer Protestplakate.

Schon mit seinem bescheidenen Monatssalär von umgerechnet 150 Euro habe er Mühe gehabt, seine vierköpfige Familie über die Runden zu bringen, doch nun sei er bei all seinen Angehörigen hoffnungslos verschuldet, umschrieb der 40-jährige Miodrag Vlajkovic in der lokalen Presse seine trostlose Situation: „Der Tod würde mich von dieser Qual erlösen.“

Monatelanges Warten auf Lohn

„Die Welle der sozialen Unruhen in Serbien setzt sich fort“, titelte in dieser Woche das Boulevardblatt „Press“. Tatsächlich wird das Land seit Monaten von Protestdemonstrationen, Hungerstreiks und gar der Selbstverstümmelung verzweifelter Arbeitnehmer erschüttert: Meist sind es Beschäftigte früherer Staatsbetriebe in der Provinz, die nach missglückter Privatisierung durch dubiose Investoren monatelang oder selbst jahrelang vergeblich auf ihre ausstehenden Bezüge oder nicht bezahlten Arbeitgeberbeiträge in die Rentenkassen warten.

Hoffnungsfrohe Nachrichten pflegt nur die Regierung zu verkünden. „Wir stehen am Beginn des Endes der Krise“, versichert Wirtschaftsminister Mladjan Dinkic: Bis Jahresende werde die Arbeitslosigkeit nicht mehr steigen. Das stimmt jedoch nur eingeschränkt. Zwar ist die offizielle Arbeitslosenrate von rund 15 Prozent trotz Krise tatsächlich nur leicht geklettert. Doch weil viele Arbeitslose sich nicht registrieren lassen, zeichnen die offiziellen Zahlen ohnehin kaum ein realistisches Bild. Nur zwei Millionen der 7,5 Millionen Serben gehen einer steuerpflichtigen Arbeit nach. Vor allem im verarmten Süden des Landes liegt die tatsächliche Arbeitslosigkeit oft über 50 Prozent. Die wenigen, die eine gesicherte Anstellung haben, bangen um ihren Job. Die Angst vor einer Wiederholung der traumatischen Entbehrungen der Neunzigerjahre sitzt bei vielen tief.

Sorge um den Arbeitsplatz

Laut einer Untersuchung des Gallup-Instituts fürchtet fast jeder zweite angestellte Serbe ständig um seinen Arbeitsplatz. Nur 22 Prozent ihrer westeuropäischen Kollegen machen ähnliche Ängste zu schaffen.

Serbien sei „Champion bei der Angst vor der Entlassung“, titelt die Zeitung „Politika“. Tatsächlich werden in Europa laut der Gallup-Untersuchung nur Tschechen und Kosovaren von ähnlich starken Existenznöten wie die Serben geplagt. Tragische emotionale Verluste wie der Tod naher Angehörigen und der Verlust der materiellen Sicherheit stünden in der Rangliste der Stressfaktoren der Serben ganz oben, so die Belgrader Psychologie-Professorin Jelena Vlajkovic.

Erschwerend komme hinzu, dass viele Landsleute die Angst vor der Wiederholung der Nöte des Kriegsjahrzehnts der Neunzigerjahre plage: „Bei vielen ist die Erinnerung an die Hyperinflation, die Wirtschaftssanktionen und die Verarmung einfach noch sehr lebendig.“

Vor allem Ältere in Angst

Die Psychologin bezweifelt in der heimischen Presse die These, dass von Entbehrungen geplagte Nationen leichter und gestählt durch die gegenwärtige Krise gehen. Von der „mentalen Ausgezehrtheit“ des Landes zeugten nicht zuletzt die Sozialstatistiken – wie beispielsweise die Zunahme der Selbstmorde, gerade unter älteren Serben.

Teenager, die die Neunzigerjahre im relativ beschützten Familienumfeld erlebt hätten, seien für die derzeitigen Turbulenzen „mental besser gewappnet“.

Geringes Vertrauen in Zukunft

Bei älteren Jahrgängen, die das ganze Ausmaß der damaligen Entbehrungen bewusst erlebt hätten, könne die Angst vor einer Wiederholung hingegen zu einer „ernsthaften Gefährdung“ ihres mentalen Gesundheitszustand führen. Serbiens Bevölkerung sei einem „erhöhten Risiko“ ausgesetzt, die gegenwärtige Situation als „besonders traumatisch“ zu erleben, sagt Vlajkovic.

Das geringe Vertrauen vieler Serben in die Zukunft erklärt sie mit deren Erfahrung: „Die letzten zwei Jahrzehnte waren auf uns wie schwarze Dominosteine gefallen. Und jedes Ereignis war dabei unerquicklicher und stressiger als das zuvor.“

Auf einen Blick

In Serbien ist die Sorge um den Arbeitsplatz so stark wie in sonst fast keinem europäischen Land. Jeder zweite Beschäftigte fürchtet um seinen Job. Grund für diese Sorge ist die Angst vor einer Wiederholung der entbehrungsreichen neunziger Jahre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2009)

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