Merkel und die deutsche Wirtschaft: Auch ohne Reformen zum Erfolg

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Die Zahlen stimmen, die Stimmung ist gut. Aber liegt es an der Kanzlerin, dass Deutschland wirtschaftlich erfolgreich ist?

Wien. Legt man nur nackte Zahlen nebeneinander, dann drängt sich der Schluss auf: Bei Angela Merkel muss es sich um eine begnadete Wirtschaftspolitikerin handeln. In der Dekade ihrer Kanzlerschaft hat sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland halbiert (von 11,7 auf sechs Prozent) und liegt nun auf dem niedrigsten Stand seit 1991. Das Wachstumspotenzial ist heute doppelt so hoch wie im Jahr ihrer ersten Angelobung. Beschäftigung, Exporte und Leistungsbilanz brechen laufend neue Rekorde. Die Staatsfinanzen sind fest im Griff. Der schon fast vergessene, zuletzt vor einem halben Jahrhundert gebrauchte Ausdruck „Haushaltsüberschuss“ ist plötzlich wieder aktuell. Wo vor zehn Jahren noch ein Defizit von 3,3 Prozent für Unmut in Brüssel sorgte, prangt heute eine schwarze Null, die sich nicht einmal von den Kosten für die Integration von einer Million Flüchtlinge aus Syrien rot einfärben lässt.

Die Bilanz glänzt also hell. Aber wie wirtschaftlicher Erfolg und politischer Verdienst zusammenhängen, ist nicht trivial. Viel hängt von den Unternehmen und ihren Strategien ab. Maschinen und Autos für China: Damit bot die deutsche Industrie genau das an, was am Weltmarkt besonders gefragt war. Die Zurückhaltung bei den Lohnabschlüssen (nach starken Übertreibungen in den Neunzigerjahren) machte deutsche Waren noch wettbewerbsfähiger. Seit höhere Reallöhne wieder gut leistbar sind, lassen die weisen Sozialpartner die Zügel lockerer – und stärken so zum richtigen Zeitpunkt den Binnenkonsum.

Vor allem aber kann sich Merkel bei ihrem Vorgänger bedanken. Politische Maßnahmen wirken auf die Wirtschaft meist zeitversetzt. Die Kanzlerin hat die Ernte eingefahren, für die Gerhard Schröder die Saat streute. Es war der rote „Genosse der Bosse“, der mit den Arbeitsmarkt- und Pensionsreformen der „Agenda 2010“ den Grundstein für die deutschen Erfolge legte. Immerhin: Von 2005 bis 2009 legte Merkel, die sich im Wahlkampf als rabiate Radikalreformerin präsentiert hatte, noch ein wenig nach. Ihre erste Große Koalition senkte die Unternehmenssteuern weiter und verankerte eine Schuldenbremse in der Verfassung. Zwischendurch bewährte sich Merkel als Krisenmanagerin, als das Erdbeben im globalen Finanzsystem auch deutsche Banken in Bedrängnis brachte.

Das war es dann aber. Vielleicht lag es an den sprudelnden Einnahmen und den niedrigen Zinsen, durch die sich der Haushalt von selbst sanierte. Fest steht: Der Reformeifer erlahmte völlig. Die bürgerlich-liberale Koalition ab 2009, von der sich viele Wirtschaftstreibende marktliberale Akzente erhofften, setzte keine einzige versprochene Maßnahme um. Nach dem Atomunfall in Fukushima entschied sich Merkel für eine übereilte Energiewende – ein planwirtschaftliches Experiment, das vielleicht noch gut ausgeht, bis jetzt aber vor allem Chaos und immense Kosten verursacht.

Rolle rückwärts bei der Rente

Derweil profilierte sich Merkel an fremden Fronten: Sie rettete ziemlich eigenhändig die Eurozone vor dem Kollaps, zeigte enorme Kondition in nächtelangen EU-Krisensitzungen und wählte dabei meist die richtige Balance aus Härte und Solidarität. Seltsamerweise forderte sie von den maroden Euro-Partnern genau jene mutigen Reformen ein, von denen sie selbst zuhause die Finger ließ. Zur richtigen „Rolle rückwärts“ kommt es seit der Neuauflage der Großen Koalition vor zwei Jahren. Mit der „Rente mit 63“ (eine Art Hacklerregelung auf bundesdeutsch) versucht die SPD, ihre gekränkten Stammwähler zu versöhnen. Merkel lässt ihre Partner gewähren, obwohl Ökonomen einen „Sündenfall“ beklagen. Auch der gesetzliche Mindestlohn findet bei vielen Experten keine Gnade. Noch zeigen sich die Zahlen robust. Aber wie schon nach Schröders Reformen könnten die Folgen viel später eintreten. Merkel hat in den letzten fünf Jahren wirtschaftlich wenig gesät, was künftig bessere Ernten verspricht.

Aber vielleicht erwacht noch einmal die alte Reformerin in ihr. Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass diese Frau ihre Skeptiker und Gegner überrascht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2015)

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