Zumindest Lohn statt Mindestlohn?

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In Deutschland gilt seit Jahresbeginn eine bundesweite Lohnuntergrenze. Wegen der vielen Flüchtlinge plädieren Ökonomen dafür, diese auszuhebeln.

Wie lang sie bleiben? Das weiß niemand. Nicht sie selbst, nicht der deutsche Staat, nicht die wichtigen Herren auf der Bühne der Weltpolitik. Eines wissen jedoch alle: Sie werden die europäischen Nationalstaaten noch sehr lang beschäftigen. Und nicht nur diese.

Eine Million Flüchtlinge werden heuer in Deutschland erwartet. Sie sprechen eine andere Sprache, sie haben einen anderen kulturellen Hintergrund, eine andere Ausbildung oder auch keine. Damit diese Menschen keine Parallelgesellschaften bilden und dem Sozialstaat nicht ewig zur Last fallen, sollen sie so schnell wie möglich auf dem Arbeitsmarkt untergebracht werden. Das gilt gemeinhin als Schlüssel zur Integration, zugleich ist es eine der größten Herausforderungen.

Wie man Flüchtlingen den Weg in die Erwerbstätigkeit erleichtern kann, glauben in Deutschland einige Ökonomen zu wissen: Sie fordern die Abschaffung oder Ausnahmen beim Mindestlohn, dieser staatlich festgesetzten und bundesweit geltenden Lohnuntergrenze. „Die deutschen Unternehmen sind bereit, ihr Möglichstes zu tun“, sagt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Zwar dürfe die Herkunft eines Menschen bei der Bezahlung keine Rolle spielen. Aber Ausnahmen beim Mindestlohn? Die fände er schon auch gut.

Im Vergleich zu arbeitslosen Deutschen haben Flüchtlinge schon jetzt deutlich mehr Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Zwischen Anfang Oktober 2014 und September 2015 gingen 68.000 Flüchtlinge einer Erwerbstätigkeit nach. Während im Monatsschnitt nur sieben Prozent der erwerbslosen Einheimischen eine neue Stelle fanden, waren es unter den Flüchtlingen lediglich vier Prozent. Weibliche Asylwerber stehen noch schlechter da.

Dabei kommen Deutschlands Gesetze den Schutzsuchenden durchaus entgegen. Zumindest in der Theorie ist es für sie relativ leicht, einer Beschäftigung nachzugehen. So dürfen Flüchtlinge – unabhängig von ihrem Asylstatus – bereits nach drei Monaten arbeiten. Wenn sich für die gleiche Stelle jedoch ein EU-Bürger bewirbt, heißt es: weitersuchen. Erst nach 15 Monaten fällt diese Hürde. Für Unternehmen ist das freilich auch ein Problem: Denn wird ein Asylantrag abgelehnt, hat sich die Investition in den neuen Mitarbeiter nicht gelohnt – egal, wie engagiert dieser war. Die Branchen, in denen sich viele Asylwerber wiederfinden, sind im Niedriglohnsektor angesiedelt. Es ist die Bauwirtschaft oder etwa die Gastronomie.

Jahrelang wurde in der Bundesrepublik über die Vor- und Nachteile des Mindestlohns gestritten. Er gilt als linke Forderung, eingeführt wurde er heuer schließlich von einer christlichsozial angeführten Koalition. 8,50 Euro brutto pro Stunde müssen Arbeitgeber ihren Mitarbeitern zahlen. Zwischen Ost und West wird kein Unterschied gemacht.


Ausnahmen gefordert. Um den Druck vom Arbeitsmarkt zu nehmen, fordert der Sachverständigenrat, eine Zusammensetzung honoriger Ökonomen, daher, etwas zu ändern. Das Gremium will Flüchtlinge vom Mindestlohn ausnehmen. Andernfalls sei die Eintrittsbarriere zu hoch. Das sieht auch ein Drittel der Unternehmen so, wie sich in einer Befragung des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo herausgestellt hat. Vor allem im wirtschaftlich schwächeren Osten gibt es Bedenken. 41 Prozent der bundesweit befragten Firmen sehen in Flüchtlingen nur potenzielle Hilfsarbeiter. Die anderen 59 Prozent nicht einmal das.

Zahlen des Sozio-oekonomischen Panels besagen, dass 2013 fast die Hälfte der in den vergangenen fünf Jahren Zugewanderten (von außerhalb des westlichen Kulturkreises) einen Stundenlohn unter dem damaligen Äquivalent des heutigen Mindestlohns verdienten. Unter den deutschen Staatsbürgern lag der Anteil weit darunter. Er lag bei lediglich zwölf Prozent.

Doch die Experten wissen, wozu Ausnahmen beim Mindestlohn führen können. Zu einem Verdrängungswettbewerb bei Geringverdienern, zu einem Abwertungswettlauf bei Löhnen. Um eine Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden, sollen Flüchtlinge daher mit Langzeitarbeitslosen gleichgesetzt werden. Das Ifo empfiehlt neben der Abschaffung des Mindestlohns eine „großzügigere Handhabung“ für Menschen ohne Berufserfahrung, sagt Ifo-Experte Gabriel Felbermayr. Die Regelung soll dann für alle gelten.

Denn auch wer eher geringe Einnahmen habe, könne im Lauf seiner Erwerbsbiografie Lohnsteigerungen erfahren. „Wenn man aber arbeitslos bleibt, wird es selbst damit nichts.“ „Wir sagen nicht, dass es schön ist, wenn die Leute wenig verdienen, aber man muss ihnen anders helfen.“ Etwa über den Kombilohn. Dieser koppelt Einnahmen aus Erwerbstätigkeit mit staatlichen Sozialtransfers. Der Mindestlohn, so Felbermayr, führe hingegen nur dazu, dass der Staat seine Sozialkosten auf Unternehmen abwälze. „Es ist aber der Staat, der Sozialpolitik machen muss.“ Lediglich für Flüchtlinge Ausnahmen zu schaffen, hält auch Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln für sinnlos. Eine derartige Selektion wäre wohl auch nicht mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vereinbar. Besser sei es daher, den Mindestlohn für Praktika generell auszusetzen.

Schon jetzt Veränderungen beim Mindestlohn einzuführen, hält Lesch für verfrüht. Bis Ende Juni des kommenden Jahres muss die Mindestlohnkommission über eine Absenkung oder eine Erhöhung der Lohnuntergrenze entscheiden. Noch wisse man kaum, wie viele Flüchtlinge dem Arbeitsmarkt tatsächlich zu Verfügung stehen. „Sollte sich aber abzeichnen, dass es beispielsweise 150.000 Flüchtlinge nicht in die Arbeitsmarkt schaffen, muss man sich genau ansehen, inwiefern der Mindestlohn hier einen Hemmschuh darstellt.“ Anderseits: Schon jetzt überlagern tarifliche Branchenmindestlöhne die gesetzliche Lohnuntergrenze. In elf von 19 Branchen zahlen Unternehmen ihren Mitarbeitern mehr als zehn Euro pro Stunde, nur vier Sparten liegen unter dem gesetzlichen Tarif (da teils Abweichungen bis 2017 erlaubt sind).


Schädlicher Mindestlohn? Doch hat die Einführung des Mindestlohns dem Standort Deutschland wirklich so sehr geschadet? Das Negative zuerst: Die Zahl der Minijobs (geringfügig entlohnte Beschäftigung) ist deutlich zurückgegangen. Dass die Stellen in eine sozialversicherungspflichte Beschäftigung umgewandelt werden, ist eher unwahrscheinlich.

Doch abgesehen davon sind die apokalyptischen Prognosen der Ökonomen nicht eingetreten. „Die Angst, dass vor allem Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor arbeitslos werden, hat sich bisher nicht bewahrheitet“, sagt Lesch. Im Gastgewerbe kam es sogar zu einem Beschäftigungszuwachs. Aber: Weil ein Abbau von Arbeitsplätzen in Unternehmen häufig erst als letztes Mittel in Erwägung gezogen wird, müsse man noch abwarten, der Datenlage wegen. Welche Auswirkungen der Mindestlohn in schlechteren Konjunkturphasen hat, ist zudem unbekannt. Noch scheint über Deutschlands Wirtschaft aber die Sonne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2015)

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