Deutschland: Der Fluch der fehlenden Kinder

Schatzmeister Wolfgang Schäuble.
Schatzmeister Wolfgang Schäuble.(c) REUTERS (YVES HERMAN)
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Das Finanzministerium schlägt Alarm: Durch die Alterung der Gesellschaft drohe bis 2060 eine Schuldenquote von horrenden 220 Prozent. Daher will man ab sofort sparen.

Wien/Berlin. Die Meldung macht stutzig: Die deutschen Staatsfinanzen könnten völlig aus dem Ruder laufen. Es drohen künftig „griechische Verhältnisse“, mit einer staatlichen Schuldenquote von 220 Prozent, also mehr als dem Doppelten der jährlichen Wirtschaftsleistung. Ausgerechnet in Deutschland, dem Musterschüler in Sachen Haushaltsdisziplin? Dem Land der Schuldenbremse, der Budgetüberschüsse, der Rekordbeschäftigung und der brummenden Wirtschaft? Aber tatsächlich steht das Szenario schwarz auf weiß im neuen „Tragfähigkeitsbericht“ des Finanzministeriums in Berlin. Wie ernst ist diese Prognose also zu nehmen?

Eine plausible, aber wohl zu kurz greifende Antwort: Es geht um taktische Manöver. Der gewiefte Schatzmeister Wolfgang Schäuble muss sich ab kommenden Mittwoch anhören, was seine Ministerkollegen für ihre Etats 2017 fordern. Die Wunschlisten sind lang, vor allem wegen der Flüchtlingskrise. Da trifft es sich gut, wenn am gleichen Tag ein Bericht erscheint, der einen pessimistischen Blick in die Zukunft der Staatsfinanzen wirft, nämlich bis 2060. Und wenn der Entwurf schon Ende der Vorwoche unversehens in den Redaktionen von „Welt“ und „Handelsblatt“ landet. Das baut Gegendruck auf und verschafft dem Herrn der „schwarzen Null“ eine bessere Verhandlungsbasis.

Freilich: Eine solche Auswertung gibt es jedes Jahr, immer wieder weist sie auf eine Tragfähigkeitslücke hin. Aber noch nie ist die Warnung so vehement ausgefallen wie heuer. Auch wenn das Timing geschickt gewählt ist: Was in dem Bericht steht, hat nichts mit der Taktik des Politikalltags zu tun. Im Gegenteil: Er wagt eine langfristige Perspektive, die Politiker sonst gern vermeiden. Das Ergebnis: Die deutschen Staatsfinanzen sind trotz aller heutiger Erfolge nicht für die Zukunft gerüstet.

Der Grund ist der demografische Wandel. Die Alterung der Gesellschaft erweist sich in diesem Zahlenwerk als eine Belastung, neben der sich die Kosten der Flüchtlingskrise wie eine Petitesse ausnehmen. Die Probleme beginnen, wenn die Babyboomer in fünf bis zehn Jahren in Pension gehen, und es an Jungen fehlt, die ihre Arbeit übernehmen und Beiträge ins Pensionssystem einzahlen.

„Griechische Verhältnisse“

Zwar sorgt die Rentenformel dafür, dass in diesem Fall die Pensionen sinken. Aber es bleibt eine Lücke, die der Bund mit Sozialhilfe schließen muss. Dazu kommen mehr Ausgaben für Gesundheit, wenn bis 2060 jeder siebente Deutsche über 80 Jahre alt sein wird.

Die bittere Ironie dabei: dass die Situation sich verschlechtert, hat Schäuble selbst mitverursacht – indem er Wahlgeschenke der Großen Koalition wie die Rente mit 63 und die Mütterrente zugelassen hat. Dennoch will er die Maastricht-Schuldengrenze von 60 Prozent, die Deutschland bald wieder unterbieten dürfte, auf Dauer absichern. Das erfordert ein frühzeitiges Gegensteuern – also ab sofort. Die Beamten rechnen mit zwei Szenarien, die sich vor allem durch die Entwicklung der Geburtenrate unterscheiden. Selbst im optimistischen Fall müsste sich der Primärsaldo (also vor Zinsausgaben) ab sofort und auf Dauer um 1,2 Prozentpunkte des BIPs verbessern. Im pessimistischen Fall wäre der Anpassungsbedarf 3,8 Prozent.

Ohne ihn käme es zu der Horrorquote von 220 Prozent Staatsschulden – fast das Dreifache von heute und sogar mehr als Griechenland (mit zuletzt 171 Prozent). Besser greifbar sind die absoluten Werte: Auf Basis der heutigen Wirtschaftsleistung beträgt die Lücke zwischen 37 und 119 Mrd. Euro. Zu schließen wäre sie durch Sparmaßnahmen oder höhere Steuern. Da solche Einschnitte auf einen Schlag politisch nie umzusetzen sind, lautet die Empfehlung, sie gleichmäßig auf fünf Jahre zu verteilen. Das ergäbe pro Jahr einen Korrekturbedarf von sieben bis 24 Milliarden.

Auch den flotten Sager von den „griechischen Verhältnissen“ haben Regierungskreise den vorab informierten Medien zugeflüstert. Aber der Vergleich hinkt, weil er morgen neben heute stellt. Athen ist für den demografischen Wandel weit schlechter gerüstet als Deutschland, mit einer noch niedrigeren Geburtenrate und einem schon heute nicht mehr finanzierbaren Pensionssystem. Und Österreich? Die Geburtenrate liegt mit rund 1,4 Kinder pro Frau gleich niedrig wie beim großen Nachbarn. Jedes Jahr reiht die Beratungsfirma Mercer 25 Industriestaaten (und China) nach der Zukunftsfähigkeit ihrer Pensionssysteme. Deutschland landete bei der Bewertung im Oktober auf Platz zwölf, Österreich nur auf Platz 18.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

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