Sind wir zu viele? Thomas Malthus' langer Schatten

Zu Zeiten von Malthus gab es weniger als eine Milliarde Menschen. Heute sind wir bald acht Milliarden. Katastrophe abgesagt? Oder steht sie bevor?
Zu Zeiten von Malthus gab es weniger als eine Milliarde Menschen. Heute sind wir bald acht Milliarden. Katastrophe abgesagt? Oder steht sie bevor?Clemens Fabry
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Heute vor 250 Jahren wurde der britische Ökonom geboren, der als Erster vor den Gefahren der Überbevölkerung warnte. Die Theorie war falsch. Aber ihr Echo hallt nach.

Schön muss es auf Tikopia sein, am anderen Ende der Welt. Reisende beschrieben die abgelegene Südseeinsel als kleines Paradies, in dem die Menschen friedlich und ohne materielle Not zusammenleben. Doch fast niemand würde bei uns von dem Überrest eines erloschenen Vulkans wissen, hätte nicht ein Anthropologe Ende der 1920er-Jahre etwas Erstaunliches entdeckt: Die dort lebenden Polynesier schafften es über tausende Jahre, die Zahl der Bewohner konstant zu halten.

Rund 1000 Menschen – mehr waren auf den fünf Quadratkilometern nicht satt zu kriegen, mit den traditionellen Formen der Landwirtschaft und des Fischfangs. Erreicht wurde das Ziel durch rigorose Geburtenkontrolle: Nur dem ältesten Sohn jeder Familie war es erlaubt, Kinder zu zeugen. Jüngere Söhne und viele Töchter blieben ledig. Über ein Drittel der erzwungenen Junggesellen suchte den Tod als Seemann. Wer blieb, bemühte sich zu verhüten, indem er seine Liebesakte abbrach. Wurde die Frau dabei schwanger, musste sie abtreiben. Andernfalls hat man ihr Neugeborenes erstickt oder lebendig begraben. Das kleine Paradies glich in manchem der Hölle.

Kanzel und Katheder. Über Himmel und Hölle wusste auch Thomas Malthus Bescheid. Als anglikanischer Pfarrer hätte er manche Praktiken auf Tikopia verdammen müssen. Aber er stand nicht nur auf der Kanzel, sondern auch hinter dem Katheder: als Nationalökonom, sogar als erster Professor dieses Fachs. Und die Häuptlinge des Eilands hätten ihre schlimmen Lehren auch aus seiner berühmten Theorie ziehen können. Denn der Brite warnte in seinem „Essay on the Principle of Population“ von 1798 als Erster vor den Gefahren der Überbevölkerung – so eindringlich, dass seine Thesen Furore machten. An diesem Sonntag jährt sich zum 250. Mal der Geburtstag des Begründers der Bevölkerungsökonomie.

Seine Prophezeiung, dass eine steigende Zahl an Menschen zwangsläufig zur Verelendung führt, hat der Lauf der Dinge zwar eindrucksvoll widerlegt. Aber die Ideen des Pastors wirken bis heute nach. Wenn der Club of Rome die Grenzen des Wachstums aufzeigt, Ökologen den Untergang wittern oder Gewaltforscher vor Heerscharen von „überzähligen“ jungen Männern warnen – immer schwingt der Pessimismus von Malthus als düsterer Grundton mit.

Das Prinzip seines „Bevölkerungsgesetzes“ ist rasch erklärt. Malthus ging davon aus, dass die Menschheit exponentiell wächst, nach dem Muster einer geometrischen Reihe: 1, 2, 4, 8, 16 und so weiter. Die Produktion von Lebensmitteln könne da nicht mithalten, weil nur begrenzt bebaubares Land zur Verfügung steht. Sie wachse nur linear, nach einer arithmetischen Reihe: 1, 2, 3, 4 und so weiter. Die Folge: Massenarmut, Hungersnöte, Seuchen, Krieg. Solche Positive Checks, wie Malthus sie zynisch nennt, dezimieren die Bevölkerungszahl, bis ein Niveau erreicht ist, bei dem die Menschheit sich wieder ernähren kann. Dann geht der traurige Teufelskreis von vorn los.

Immerhin: In der zweiten Auflage ergänzte der forschende Kirchenmann seine Analyse um Preventive Checks, die den grausamen Mechanismus der Natur abmildern. Dazu gehört: enthaltsam sein, später heiraten, weniger Kinder kriegen. Der Theoretiker ging mit praktischem Beispiel voran: Obwohl er selbst sechs Geschwister hatte, vermählte sich Malthus erst mit 38, als er ein sicheres Einkommen hatte, und setzte nur drei Nachkommen in die Welt (von denen ein Mädchen in jungen Jahren starb).

Aber er sah noch einen anderen Ansatz, die Geburtenraten zu senken: eine bessere Bildung für die Unterschicht – erstaunlich fortschrittlich und bis heute aktuell. Auch wollte er den Armen durch Arbeitsanreize zu mehr Besitz und Unabhängigkeit verhelfen. Direkte Hilfe aber lehnte er ab. Er fürchtete, das könnte die Mittellosen zu noch größerer Fruchtbarkeit verlocken.

Seine fixe Idee einer „Bevölkerungsfalle“ ließ ihn in moralische Fallen tappen. Ein mittelloser Mensch, dessen Arbeit die Gesellschaft „nicht nötig hat“, habe „nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde“. Diese berüchtigte Stelle hat Malthus zwar später gestrichen. Aber die inhumane Saat ging auf.



Ein Sinn für Krisen.
Seine politischen Jünger sorgten dafür, dass bei den großen Hungersnöten in Irland und Indien die britische Hilfe sehr zögerlich anlief, was Hunderttausenden das Leben kostete. Schon sein Freund und Rivale David Ricardo warf Malthus vor, er gebe „den Reichen eine sehr erfreuliche Formel, die Missgeschicke der Armen zu ertragen“ – eine Kritik, die später Marx und Engels in eine weit giftigere Form fassten.

Zu Malthus' Ehrenrettung lässt sich sagen: Er sah die Not. Tatsächlich wuchs die englische Bevölkerung damals sehr rasch, tatsächlich schwollen die Slums am Stadtrand Londons an. Die Kollegen in der Ökonomenzunft aber blieben frohgemut: Ricardo pries die Segnungen des Freihandels, John Stuart Mill sah den Kapitalismus auf einen stationären Zustand zustreben. Der Sinn für Krisen bei Malthus mag dagegen modern erscheinen. Aber in einem wirkt sein Pessimismus hoffnungslos veraltet: dass er die Fähigkeit der Menschen, neue Probleme zu lösen, völlig unterschätzt hat. „Das Bevölkerungsgesetz“ entstand zu einer Zeitenwende – Pech für den Prognostiker, Glück für alle anderen.

Mit seinen mageren empirischen Befunden blickte er zurück auf eine Agrargesellschaft, die in England bereits der industriellen Revolution wich. Der Fortschritt erhöhte die Produktivität massiv. Volkswirtschaften wuchsen plötzlich stärker als ihre Bevölkerung. Womit Malthus auch nicht gerechnet hatte: dass steigende Einkommen zu weniger Kindern führen. Der Pessimist schien widerlegt. Seine verbliebenen Anhänger brummten: noch einmal davongekommen, aber wartet nur ab! Sie mussten recht lang warten.

Doch die Bewährungsprobe kam nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch die Fortschritte der Medizin ging die Kindersterblichkeit massiv zurück und die Alten lebten immer länger. Die Geburtenraten blieben aber noch einige Zeit sehr hoch. Die Folge war ein überexponentielles Wachstum der Weltbevölkerung. Das heißt: Sogar die Wachstumsraten stiegen an. Dennoch gab es in Summe genug Nahrung. Wieder sprangen Innovationen in die Bresche: Die „grüne Revolution“ brachte neue, ergiebigere Sorten. Generell gilt bis heute: Wo es zu Hungersnöten kommt, liegt das an sozialen Verwerfungen und falscher Politik, nicht an „zu vielen Menschen“.

Dennoch machte der schwindelerregende Anstieg Sorgen. Seinen Höhepunkt erreichte er Ende der 1960er-Jahre. Wieder eine Zeitenwende, wieder eine apokalyptische Prognose: Der Club of Rome rüttelte 1972 mit seinem Bericht „Grenzen des Wachstums“ auf. Dort stand: Wenn es so weitergeht mit der Zahl der Erdbewohner, der Umweltzerstörung und dem Raubbau an Ressourcen, dann geht es bald gar nicht mehr weiter. Die Malthusianer kleideten sich von nun an grün.

Aber wieder hatten Forscher einen fundamentalen Wandel übersehen: Der Siegeszug der Pille, die Ein-Kind-Politik Chinas (ganz im Sinn von Malthus) und der weiter wachsende Wohlstand führten zu einem viel stärkeren Rückgang der Geburtenraten als angenommen. Im Übrigen sind Irrtum und Verdienst des Teams um Dennis Meadows nur schwer zu trennen. Ihr Alarmruf führte zu rascherem Umdenken. Es gelang, zumindest in den Industriestaaten, den Ressourcenverbrauch vom Wachstum der Wirtschaft deutlich zu entkoppeln.



Lange Bremsspur.
Freilich: Die Bremsspur ist lang. Auch wenn sich die Kurve abflacht: Noch bis zum Ende des Jahrhunderts steigt laut UN-Prognose die Zahl der Erdbewohner, auf 11,2 Milliarden (das Vienna Institute of Demography rechnet nur mit 8,9 Milliarden). Spätestens ab dann sinkt sie. Die maximale Zahl sollte zu ernähren sein, auch wenn der Fleischkonsum in den Schwellenländern zunimmt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass bei der Produktivität in der Landwirtschaft das Limit erreicht sei. Ein Stichwort heißt Gentechnik, auch wenn es hierzulande nicht gern gehört wird.

In fast allen Entwicklungs- und Schwellenländern gehen die Geburtenzahlen zurück, schnurstracks in Richtung auf die Reproduktionsrate von 2,1 Kindern pro Frau. Wer besser lebt, weiß besser Bescheid, auch über Verhütungsmethoden. Frauen setzen sich vielerorts besser durch. Soziale Sicherungsnetze und die Chance auf private Vorsorge ersetzen einen früheren Zwang: viele Kinder zu gebären, von denen dann zumindest eines in der Lage ist, auch seine alten Eltern zu ernähren. Nur in wenigen Staaten bleibt die Geburtenrate hoch.

Es sind die ärmsten Länder, aber auch Krisenherde wie Afghanistan oder der Gazastreifen. Dort verhungert niemand, aber es gibt viele junge Männer ohne Perspektive. Der deutsche Gewaltforscher Gunnar Heinsohn zeichnete das düstere Bild einer viele Millionen starken, testosterongeschwängerten Reservearmee, willige Opfer für Trommler des Terrors. Seine steilen Thesen sind umstritten. Aber auch besonnene Bevölkerungsökonomen wie Wolfgang Lutz in Wien und Reiner Klingholz in Berlin sorgen sich in ihrem kommende Woche erscheinenden Buch „Wer überlebt?“ darüber, dass in den Failed States die Geburtenraten nicht mehr weiter zurückgehen.

Hoffen auf Erfindergeist.
Es gibt aber auch ein konkreteres Problem, das dem Malthus-Szenario genau entgegengesetzt ist: dass die Bevölkerung in vielen Industriestaaten wegen akuten Kindermangels bald schrumpfen dürfte. Dazu gehören auch Deutschland und Österreich. Wenn Japan auch künftig keine Zuwanderung zulässt, lässt sich ausrechnen, dass es bei konstant niedriger Geburtenrate in absehbarer Zeit aussterben wird. Auf jeden Fall kann die Wirtschaft bei schrumpfender Bevölkerung kaum wachsen: Ein Unternehmen, das immer weniger Kunden hat, investiert nicht und baut Jobs ab. Die Folgen wären hohe Arbeitslosigkeit, belastete Sozialsysteme und untragbare Staatsschulden.

Aber diese alarmierende Aussicht geht bisher fast unter, neben dem Diskurs über den Klimawandel, der ein Ende des Wirtschaftswachstums in der Ersten Welt geradezu fordert. Damit befreien sich die geläuterten Erben von Malthus vom Makel des Asozialen. Ihr Zauberwort ist der ökologische Fußabdruck. Er misst die Hektar, die es braucht, um den mittleren Bewohner eines Landes nach seinem Standard zu versorgen und die von ihm verursachte Verschmutzung zu absorbieren. Dabei zeigt sich: Das Problem ist nicht das arme Afrika, obwohl es laut UN noch 3,2 Milliarden Menschen dazugewinnt. Die Sünder sind vielmehr wir, um mit Malthus von der Kanzel zu sprechen.

Sollte er diesmal doch recht behalten? Oder lassen sich Wohlstand und ein Stoppen der Erderwärmung verbinden? Wieder müsste die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen für eine Lösung sorgen. Bisher hat sie noch immer den antihumanistischen Kern von Malthus' Lehre Lügen gestraft: dass der Mensch des Menschen Verderben sei.

Auch auf Tikopia hält die moderne Zivilisation langsam Einzug. Aber die Chefs der vier Clans klammern sich verbissen an ihre archaischen Traditionen, auch an das Nullwachstum der Inselbevölkerung. Das Problem löst sich freilich mittlerweile von selbst: Die Jungen wandern aus – in der Hoffnung auf ein besseres, erfülltes Leben. Fern von falschen Propheten.

Steckbrief

Thomas Robert Malthus wurde 1766 in der englischen Grafschaft Surrey geboren und starb 1834 in Bath. Er war Nationalökonom, Sozialphilosoph, Professor und anglikanischer Pfarrer.

„An Essay on the Principle of Population“ (deutsch: „Das Bevölkerungsgesetz“) war sein einflussreichstes Werk. Es warnte vor einer Bevölkerungsexplosion, die die Menschheit ins Elend stürzt. Wikipedia

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

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