Wo das Internet als sündhaft gilt, ist es weit zum Hightech-Job

ISRAEL-JERUSALEM-JUDAISM-RELIGION
ISRAEL-JERUSALEM-JUDAISM-RELIGIONAPA/AFP/THOMAS COEX
  • Drucken

Verdienen, statt der Familie zur Last fallen: Die Hälfte der ultraorthodoxen Männer arbeitet wieder.

Auch das Handy kann koscher sein. Ein israelischer Mobilfunkanbieter bietet die gottgefälligen Modelle seit zweieinhalb Jahren an. Davor hat ein bekannter Rabbi die Smartphones als neue Form des Bösen verdammt und ihre zerstörerische Wirkung mit der von Waffen verglichen. Ein Kollege zerschmetterte ein Exemplar öffentlich. Manche Synagogen erklären Hochzeiten nachträglich für ungültig, wenn ein Trauzeuge ein solches Teufelszeug in der Tasche trug. Bei der koscheren Lösung ist der Zugang zum Internet blockiert, was ein Geistlicher bescheinigen muss. Denn das Netz eröffnet den Zugang in eine fremde, gefährliche Welt der säkularen Sündhaftigkeit.

Ultraorthodoxe Juden leben in Israel meist isoliert, in eigenen Siedlungen mit eigenen Schulen. Zu ihrem so anderen Leben gehört, dass sehr viele erwachsene Männer nicht arbeiten. Sie verbringen ihre Tage in religiösen Akademien mit dem Studium von Thora und Talmud. Für ein wenig Einkommen sorgen dann die Frauen. Weil das für die kinderreichen Familien meist bei Weitem nicht reicht, springt der Staat helfend ein. Was bisher noch gut geht: Israels Wirtschaft ist so robust, dass sie eine stark unterbeschäftigte Minderheit von elf Prozent verkraften kann.

Aber für den Staatshaushalt tickt eine demografische Bombe: Unter den sogenannten Haredim ist die Geburtenrate mehr als doppelt so hoch wie beim Rest der jüdischen Bevölkerung. Wenn es so weiterläuft, werden sie im Jahr 2059 schon 27 Prozent stellen. Leicht steigen wird auch der Anteil der Araber, heute ein Fünftel aller Bürger in Israel. Bei ihnen gehen viel zu wenige Frauen einer Arbeit nach. Zusammen könnten beide Gruppen dann sogar knapp über 50 Prozent kommen – die Mehrheit wäre zur Minderheit degradiert. Das Finanzministerium hat ausgerechnet, wozu dieses Szenario budgetär führt, wenn Beschäftigungsquoten und Sozialtransfers gleich bleiben: zu 170 Prozent Staatsverschuldung, so wie heute in Griechenland.

Harte Kürzung. Um diesem Schicksal zu entgehen, hat die Politik in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten einiges unternommen – vor allem auf die harte Tour: Sie hat Sozialleistungen gekürzt, um die Haredim zum Arbeiten zu zwingen. Die bittere Medizin scheint zu wirken: Erst kamen deutlich mehr ihrer Frauen in Brot und Lohn, nun ziehen die Männer nach. 52 Prozent: Dass nun immerhin mehr als die Hälfte von ihnen einer Arbeit nachgeht, feiert das Land als großen Erfolg. Es gibt auch einen Wirtschaftssektor, der händeringend nach Personal sucht: ausgerechnet die IT-Industrie, die Szene der boomenden Internet-Start-ups. Wer dort als Programmierer anheuert, hat Ärger mit dem Rabbi programmiert.

„Es ist sehr hart, von einer Welt in die andere zu gehen. In eine Welt, vor der wir Angst haben“, klagt ein Haredi in einem Video, mit dem eine Hilfsorganisation amerikanischer Juden ein Schulungszentrum für Glaubensgenossen in Israel bewirbt. Dort macht der sechsfache Vater mit den traditionellen Schläfenlocken seine Finger erstmals mit einer Tastatur vertraut. Für Unternehmen kann es sich lohnen, in einen Gottesfürchtigen zu investieren: Die Auslegung der Bibel hat ihr abstrakt-analytisches Denkvermögen geschärft. Und der Staat schafft kräftige Anreize, diese anzustellen, indem er anfangs 30 Prozent des Lohns subventioniert. Doch die Personaler auf den Hightech-Jobmessen kommen aus dem Staunen nicht heraus: Oft legen die Bewerber handgeschriebene Lebensläufe vor. Natürlich in hebräischer Schrift – das weltweit übliche Alphabet wäre den meisten gar nicht vertraut.

Sanfte Schulung. In den religiösen Schulen lernen die Buben ab der siebenten Klasse statt Englisch und Mathematik nur noch die Thora. Für viele bedeutet das, bei null anfangen zu müssen, wenn sie sich erst spät zur Arbeit entscheiden. Auch im Fortbildungszentrum Kivun in Jerusalem nimmt man sie dann an der Hand. Es gilt, Basiswissen nachzuholen. Oft wird dabei auf Lehrmaterial zurückgegriffen, das auf Zehnjährige zugeschnitten ist. Auf den Bildern im Englischbuch sind die Mädchen stets keusch gekleidet.

Beim Unterricht wird strikt nach Geschlechtern getrennt. Sogar das Lehrpersonal ist weiblich, wenn es sich um eine Klasse mit Frauen handelt. „Viele würden sonst nicht kommen“, erklärt Shira Berliner Poleg, die im Finanzministerium für den ultraorthodoxen Arbeitsmarkt zuständig ist. In einer der Klassen lernen Frauen den Umgang mit Computern. Alle achten sie darauf, dass Arme und Beine bis zu Hand- und Fußgelenken bedeckt sind. Technologie und konservativste Weltanschauung treffen hier aufeinander. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, steht ermutigend auf einem Plakat.

Gern hält die weniger fromme Mehrheit der Juden ihren radikalen Glaubensbrüdern Stellen aus dem Talmud vor Augen, den sie doch bestens kennen sollten: „Ein Vater ist verpflichtet, seinen Sohn einen Beruf zu lehren.“ Oder diese: „Ein Mann sollte der Allgemeinheit nicht zur Last fallen.“ Moses Maimonides, der große jüdische Aufklärer aus dem Mittelalter, schrieb unmissverständlich: „Wer berufsmäßig die Thora studiert, nicht arbeitet und sich auf Almosen für sein Auskommen verlässt, entweiht den Namen Gottes.“

Freilich war ein solches Verhalten in den Jugendjahren Israels die Ausnahme. Fast niemand konnte es sich damals leisten, am neuen Staat nicht mitzubauen. Erst die Schaffung des Sozialstaates und der Druck der ultrareligiösen Kleinparteien, ihn für ihre Klientel zu nutzen, ließ die Beschäftigungsquote unter männlichen Haredim einbrechen. Mitte der Nullerjahre erreichte sie mit 36 Prozent den Tiefpunkt. Dass sie nun wieder auf 52 Prozent klettert, ist also tatsächlich ein Erfolg. Aber zugleich nur ein Etappensieg. Denn die religiösen Parteien in der vierten Regierung Netanjahu leisten erbitterten Widerstand gegen Reformen – egal, ob es um den Lehrplan für ihre Schulen, Strafen für verweigerten Militärdienst oder weitere Kürzung von Sozialleistungen für orthodoxe Großfamilien geht. Wie das Ringen ausgeht? Fest steht: Der Kulturkampf um ein gottgefälliges Leben wird auch Israels ökonomische Zukunft entscheiden.

In Zahlen

11Prozent der Israelis sind heute ultraorthodoxe Juden.

27Prozent wird ihr Anteil laut Prognose 2059 betragen.

52Prozent der männlichen Haredim haben eine Arbeit. Vor zehn Jahren waren es nur 36 Prozent.

80Prozent ist die Beschäftigungsquote unter den übrigen Juden in Israel.




("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.