Die Mittelschicht profitiert nicht vom Wachstum

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Sowohl in den USA als auch in Deutschland verliert die Mittelschicht an Boden.

Wien/Berlin. Wolfgang Schäuble hat derzeit allen Grund zur Freude, denn die Steuern sprudeln: Bis zum Jahr 2020 dürften Bund, Länder und Gemeinden um 42,4 Milliarden Euro mehr einnehmen als bisher erwartet, verkündete der deutsche Finanzminister am Mittwoch. Der Grund dafür ist vor allem das starke Beschäftigungswachstum.

An der Mittelschicht geht dieser Aufschwung jedoch vorbei. Das zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin. Mehr noch: Die deutsche Mittelschicht schrumpft. Im Jahr 1983 zählten noch 62 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht (bis zur Wiedervereinigung wurden Daten der Bundesrepublik herangezogen). Bis 2013 sank der Anteil auf 54 Prozent. Zur Mittelschicht zählen die Autoren alle Erwachsenen, deren gesamtes Haushaltseinkommen vor Steuern und Sozialabgaben zwischen 67 und 200 Prozent des Median-Einkommens beträgt. Der Median ist ein Mittelwert: 50 Prozent der Einkommen liegen darüber, 50 Prozent darunter.

Die Autoren um den Ökonomen Markus M. Grabka analysierten die Einkommensverteilung in Deutschland und den USA über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Als Basis dienten die Haushaltseinkommen inklusive Renten und staatlicher Transferleistungen, aber vor Steuern und Sozialabgaben. Auch in den USA verliert die Mittelschicht an Boden: 1971 waren noch 61 Prozent der Bevölkerung der mittleren Einkommensklasse zuzurechnen, 2015 nur noch knapp unter 50 Prozent.

Mehr Besserverdiener

In absoluten Zahlen heißt das: Im Jahr 1970 hatte ein durchschnittlicher Haushalt der Mittelklasse in den USA rund 55.000 Dollar zur Verfügung. Zur Jahrtausendwende waren es 77.000 Euro, seither sank das Einkommen um vier Prozent. Ein deutscher Mittelschichtshaushalt hatte zur Jahrtausendwende 31.000 Euro zur Verfügung, 2013 nur noch 29.500 Euro.

Anders sieht es unter den Besserverdienern aus – jener kleinen, aber wachsenden Gruppe, die mehr als 200 Prozent des Medianeinkommens verdient. Der Anteil einkommensstarker Personen an der Gesamtbevölkerung stieg in den USA von 14 Prozent im Jahr 1980 auf 21 Prozent im Jahr 2014. Auch in Deutschland gibt es immer mehr Besserverdiener: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung erhöhte sich seit 1983 von neun auf 13 Prozent.

Dass die deutsche Mittelschicht nicht vom Beschäftigungszuwachs der vergangenen Jahre profitierte, war für die Autoren ein überraschender Befund. „Das wäre üblicherweise das, was man erwartet hätte“, so Markus M. Grabka. Als Grund nannte er, dass schlecht bezahlte Beschäftigungsformen zugenommen hätten. Auch die Arbeitsmarktreformen der Nullerjahre hätten ein Wachsen des Niedriglohnbereichs nicht verhindern können, so die Autoren. So rutschte die mittlere Schicht der Einkommensbezieher in der Hierarchie nach unten.

Migranten als Absteiger

Zu den sozialen Absteigern zählten in beiden Ländern vor allem Migranten. In den USA waren es vor allem Zuwanderer aus Lateinamerika. Die weiße Bevölkerung hingegen schaffte verstärkt den Aufstieg aus der mittleren in die obere Einkommensschicht.

Die Ökonomen untersuchten auch, wie sich die Vermögen entwickelt haben. In den USA verloren die Bezieher mittlerer Einkommen seit Anfang der 2000er-Jahre Vermögen in einer Größenordnung von etwa einem Viertel. In Deutschland hingegen verzeichnete die Mittelschicht im selben Zeitraum einen Vermögenszuwachs von etwa 15 Prozent. (bin)

AUF EINEN BLICK

Einkommen. Die deutsche Mittelschicht schrumpft: 1983 zählten 62 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht, bis 2013 sank der Anteil auf 54 Prozent, so eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Ähnlich ist die Entwicklung in den USA: 1971 waren noch 61 Prozent der US-Bevölkerung der Mittelschicht zuzurechnen, 2015 nur noch knapp unter 50 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

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