Athen: Proteste abseits der Resignation

Einige Hundert Randalierer haben die friedliche Demonstration vor dem griechischen Parlament ins Chaos gestürzt. Sie warfen am Sonntagabend Brandflaschen auf die Polizei. Die Beamten setzten Tränengas ein. Später beruhigte sich die Lage wieder.
Einige Hundert Randalierer haben die friedliche Demonstration vor dem griechischen Parlament ins Chaos gestürzt. Sie warfen am Sonntagabend Brandflaschen auf die Polizei. Die Beamten setzten Tränengas ein. Später beruhigte sich die Lage wieder. REUTERS
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20.000 Menschen gingen in Griechenland gegen das neue Sparpaket auf die Straße. Einige Hundert Randalierer stürzten die friedliche Demonstration vorübergehend ins Chaos.

Athen. Während sich am Sonntag mehrere Demonstrationszüge durch das Athener Zentrum bewegten, um gegen das neueste Sparpaket der Regierung zu protestieren, zeigte der Rest Athens eine andere Seite: Der Großteil der Athener steht den schrillen Tönen gleichgültig gegenüber.

Nach sechs Krisenjahren glaubt kaum noch jemand, dass Sozialpartner, Berufsvertretungen oder Gewerkschaften den Lauf der Dinge ändern können. So haben im selben Moment, in dem die Kammer der Gewerbetreibenden im Zentrum auch gegen die Sonntagsöffnung der Geschäfte demonstriert hat, abseits des Parlamentsviertels alle großen Kaufhäuser und Supermärkte, aber auch viele kleinere Geschäfte geöffnet.

Opposition stimmt mit Nein

Am Abend, als im Parlament die Debatte über die Gesetzesvorlage mit der Stellungnahme von Ministerpräsident Alexis Tsipras ihrem Höhepunkt zustrebte, begann auf dem Syntagma-Platz vor dem Hohen Haus ein Konzert gegen das Sparpaket – wohl, um sich noch ein letztes Mal Gehör zu verschaffen.

Die Abstimmung über Maßnahmen, die mit den internationalen Gläubigern theoretisch noch gar nicht abschließend unter Dach und Fach gebracht wurden, fand in der Nacht auf heute, Montag, statt. Sicher war, dass die Opposition im 300-köpfigen Parlament geschlossen dagegen stimmen würde. Alles hing also vom Stimmverhalten der 153 Abgeordneten der Koalitionsregierung ab, bestehend aus Radikalem Linksbündnis Syriza und rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen (Anel).

Die konservative Opposition (ND) blieb ihrer Linie treu, sowohl die Gesetzesvorlage abzulehnen als auch den Rücktritt der „unfähigen Regierung“ Tsipras zu fordern. Noch im Juli 2015 allerdings hatte die Partei die Vereinbarung mit den Gläubigern, die eben diese Maßnahmen vorsah, noch mitgetragen. Das wird ihr nun von den Regierungsparteien auch immer wieder vorgehalten.

Alexis Tsipras auf der anderen Seite hat es nach dem damals von allen Zentrumsparteien mitgetragenen Kompromiss mit den Gläubigern verabsäumt, seine Regierung auf eine breitere Basis zu stellen. Stattdessen hat er die Parlamentswahlen von September durchführen lassen, um wieder mit Anel, seinem bevorzugten Koalitionspartner, regieren zu können. Die Folge ist eine wütende, in zentralen Fragen destruktive Opposition und eine knappe Mehrheit.

Kernstück der aktuellen Vorlage ist die Neuordnung der Sozial- und Pensionsversicherung. Es wird eine staatliche Grundpension eingeführt, die um einen variablen Betrag ergänzt wird, dessen Bemessungsgrundlage von den gesamten erreichten Versicherungsjahren abhängt. Die volle Grundpension von 384 Euro wird nach 20 Versicherungsjahren ausgezahlt, wer nach 15 Jahren in Pension geht, muss einen Abschlag von zehn Prozent hinnehmen. Verlierer des neuen Systems sind die künftigen Pensionisten, die die älteren Generationen mitfinanzieren müssen.

Knackpunkte des Gesetzes sind dazu Regelungen betreffend Sozialbeiträge und Einkommensteuer. Seit Monaten laufen mächtige Berufsgruppen wie Anwälte, Notare und Ingenieure gegen die Anhebung der Sozialbeiträge Sturm. Die Anwälte boykottieren Gerichtsverhandlungen, was zu chaotischen Zuständen an den griechischen Gerichten führte.

Zu einem anderen Unikum führte der Aktionismus einer anderen Sondergruppe: Uniformierte Polizeigewerkschafter besetzten kurzfristig die Parteizentrale der Regierungspartei Syriza. Sie kämpfen gegen die Verschmelzung ihrer Pensionskasse mit der neuen, großen Einheitskasse.

Die Regierung plant die Zusammenlegung sämtlicher noch existierender griechischer Kassen. Es soll also keine getrennte gewerbliche Kasse und keine Bauernkasse mehr geben – ein Vorgehen, das im europäischen Vergleich radikal zu nennen ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2016)

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