Die Filipina, die Chefin

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PHILIPPINES-VOTEAPA/AFP/NOEL CELIS
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In wenigen Ländern ist das Geschlecht für den Karriereerfolg so unwichtig wie auf den Philippinen. Trotz großer Armut ist das Land führend in Geschlechtergerechtigkeit.

Weena Gera beobachtete das Beben von ihrem Schreibtisch aus. „Grace Poe ist eine starke Kandidatin“, murmelt sie. „Aber da wäre noch Miriam Defensor Santiago.“ Gera, Politikprofessorin an der University of the Philippines in der Großstadt Cebu, analysierte wochenlang Prognosen. Anfang Mai gingen die Bürger des 100-Millionen-Landes Philippinen an die Urnen, um einen neuen Präsidenten und Vizepräsidenten zu wählen – oder eine (Vize-)Präsidentin. Immerhin waren je zwei der führenden Wettbewerber auf die höchsten Ämter im Staat Frauen. Gera, ausgewiesene Politikexpertin des südostasiatischen Landes, meint auch im Nachhinein: „Ohne prominente Frauen wäre ein Wahlkampf hier schwer vorzustellen gewesen.“

Das sagt sie als Frau, und etwas Besonderes sagt Weena Gera damit kaum. Wie in fast keinem anderen Land schaffen es Frauen hier, Karriere zu machen. Die weiblichen Namen aus der Politik, die dieser Tage über die Fernsehbildschirme flimmern, sind dafür nur ein Platzhalter. Im jüngsten Gender Gap Report 2015 des World Economic Forum, das die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern misst, werden die Philippinen als beste Nation Asiens und siebtbeste weltweit gewertet. Aus Europa stehen nur Island, Norwegen, Finnland, Schweden und Irland höher. Österreich landet auf Rang 37 von 145 Ländern. Seit Jahren sind die Philippinen in diesem Vergleich eines der wenigen gut platzierten Länder, die nicht auch eine Industrienation sind.

Die reichen Ländern, die es mit Frauenquoten, Gesetzen und Anreizen versuchen, stellt das vor große Fragen. Warum schaffen sie das nicht? Der Gender Gap Report bewertet die weibliche Teilhabe an Wirtschaft, Bildung, Politik und Gesundheit, je nach Abschneiden werden Punkte verteilt. Demnach sind die Philippinen besonders erfolgreich darin, Frauen Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten zu bieten. Der Gender Wage Gap, der den Unterschied zwischen Löhnen für Frauen und Männern für gleiche Arbeit misst, liegt hier bei einem Fünftel. Ein vergleichsweise guter Wert, den Österreich nicht erreicht.

Bei der Präsidentschaftswahl gewann diesmal zwar mit Rodrigo Duterte, bisher Bürgermeister der Stadt Davao, ein Mann. Das Amt des Vizepräsidenten dürfte mit Leni Robredo eine Frau gewonnen haben. In jedem Fall dürften Frauen in der neuen Regierung hohe Ämter bekleiden, da auch Präsident Duterte mehrere Politikerinnen zu seinen wichtigsten Vertrauten zählt. Ohnehin sind die weiblichen Berühmtheiten im Land längst nicht mehr nur Models, Sängerinnen oder Persönlichkeiten wie die dekadente Diktatorenwitwe Imelda Marcos, einst Frau von Ferdinand Marcos, die durch ihren großen Schuhschrank berühmt wurde.


Chefetagen voller Frauen. Doch Filipinas schafften es auch in der Politik schon an die Spitze. Bevor der scheidende Präsident Aquino 2010 sein Amt antrat, war das Land von Gloria Macapagal-Arroyo regiert worden. Die Mutter des Noch-Regenten, Corazón Aquino, war ab 1986 Ferdinand Marcos als Präsidentin nachgefolgt.

Diese weiblichen Regierungsoberhäupter, Arroyo und Aquino, verdankten ihre Ämter zwar nicht zuletzt ihrer Abstammung aus zwei Politikerdynastien, die die Philippinen seit Langem dominieren. Aber auch in der Wirtschaft oder in anderen öffentlichen Ämtern finden sich Frauen wieder. Mercury Drug, die größte Drogeriekette des Landes, wird von einer Frau geführt, ebenso Puregold, ein führendes Supermarktunternehmen. Die wohl einflussreichste Person der für das philippinische Wirtschaftswachstum wichtigen Callcenterindustrie: Karen Batungbacal, eine Frau. Ähnlich sieht es im privaten Bildungssektor sowie in der Finanzbranche aus. In 33 Prozent der Unternehmen gibt es laut World Economic Forum weibliche Führungskräfte.

Ein berüchtigtes Beispiel mit direkten Verbindungen zwischen Wirtschaft und Politik ist die Geschäftsfrau Janet Lim-Napoles, die als Drahtzieherin eines milliardenschweren Veruntreuungsskandals beschuldigt wird, der 2013 an die Öffentlichkeit geriet. Die Chefaufdeckerin dieser Affäre? Maria Gracia Pulido Tan, damalige Chefin des Rechnungshofs. Tan wurde bei ihren Verhören der Beschuldigten, die bis heute die philippinischen Medien dominieren, von zwei Damen unterstützt: der Justizministerin, Leila de Lima, und der Ombudsfrau, Conchita Carpio-Morales.

Wie ist diese weibliche Macht zu erklären? „Als das Marcos-Regime fiel und Corazón Aquino unsere erste Präsidentin wurde, war das schon automatisch ein riesiger Schritt für alle anderen Frauen in meinem Land“, sagt Patricia Lapus, die mit nur 28 Jahren zur Chefsekretärin von Pulido Tan wurde. Seitdem hat sich der weibliche Einfluss in der Gesellschaft stetig erhöht.

Wirklich gut läuft es in dem südostasiatischen Land aber nicht überall. Jede zweite Schwangerschaft ist unbeabsichtigt, das Abtreibungsrecht noch immer restriktiv. Verhütung beim Sex ist nicht beliebter geworden, und die Müttersterblichkeit verharrt auf hohem Niveau. Die schlechte Gesundheit vieler Frauen hängt vor allem mit dem Ausbildungsgrad und dem wirtschaftlichen Hintergrund zusammen. Zudem sind Frauen, egal wie erfolgreich und beschäftigt im Berufsleben, häufig für den Haushalt zuständig.

Kein Gesetz, keine Quote.
Wer aus der Mittelschicht stammt, wie die Rechnungshofmitarbeiterin Patricia Lapus, bekommt meist weniger Kinder und Krankheiten und ist allein deshalb weniger benachteiligt. Aber trotz eines mehrere Jahre anhaltenden ökonomischen Aufschwungs bleibt Millionen Filipinas noch immer eine gute Ausbildung verwehrt. Gut ein Viertel des Landes lebt in Armut. Der Anteil von Frauen in der informellen Wirtschaft, wo es keine Sozialleistungen oder sonstige Absicherungen gibt, wird auf rund 70 Prozent geschätzt.

Trotzdem bleibt das Abschneiden der Philippinen bemerkenswert. Ein Gesetz, das feierlich die „Magna Carta of Women“ genannt wird, gibt Müttern Anspruch auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. „Meine Chefin hat selbst Kinder“, sagt Patricia Lapus. „Sie hat in ihrem Job einmal eine zeitlang ausgesetzt. Bei meiner Mutter war es genauso.“ Dank gut funktionierender Familiennetzwerke, wo Verwandte oft als Babysitter einspringen, erreichen philippinische Mütter ebenso Führungspositionen wie kinderlose Frauen. Eine Schwangerschaft wäre am Arbeitsplatz von Patricia Lapus kein zwingender Grund für das Berufsende.

So schaffen es die Philippinen ohne Anti-Diskriminierungsgesetz oder Quoten, Frauen an Schaltstellen der Volkswirtschaft zu bringen. „Heutzutage wird eigentlich nicht mehr darauf geschaut, welches Geschlecht jemand hat. Die Frauen haben sich ja überall unter Beweis gestellt“, meint Weena Gera, die Politikprofessorin.

So war es auch bei dieser Wahl. Die letztlich drittplatzierte Präsidentschaftskandidatin Grace Poe ist dreifache Mutter, die wahrscheinlich künftige Vizepräsidentin, Leni Robredo, ebenfalls. Und bei allem, was der Wahlkampf an Attacken produzierte: dass sie deshalb entweder keine gute Politikerin oder keine gute Mutter wären, wurde den beiden nicht vorgeworfen.

Frauen an der Macht

In jedem dritten Unternehmen auf den Philippinen sind Frauen in der Chefetage, im aktuellen Gender Gap Report des World Economic Forum wird das asiatische Land auf Rang sieben geführt; 30 Plätze vor dem wohlhabenden Österreich.

Die Philippinen brauchen für dieses hohe Maß an Geschlechtergerechtigkeit weder Gesetze noch Quoten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2016)

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