Flucht aus dem Urlaubsparadies Kroatien

A dog is seen at dog beach and bar in Crikvenica
A dog is seen at dog beach and bar in CrikvenicaREUTERS
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Die Zahl der Kroaten, die ihr Arbeitsglück in der Fremde suchen, steigt kräftig. Kroatiens neuer Gastarbeiterexodus trifft die verarmte Kornkammer Slawonien.

Unter den hohen Pfeilern des Busbahnhofs von Osijek steht der Fernbus nach Frankfurt zum Einstieg bereit. Doch Reisefreude kommt bei dem stoppelbärtigen Zvonimir keine auf. Einst hat der 30-Jährige aus Djakovo Ökonomie studiert. Wirtschaftliche Zwänge nötigten den Kroaten vor einem Jahr, sein Arbeitsglück in der Fremde zu suchen. In Frankfurt fehlten ihm die Familie und Freunde, zu Hause eine Arbeit und Perspektive, erklärt der in Deutschland als Möbelpacker arbeitende Volkswirt sein Dilemma: „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber hier leben. Aber ich habe keine.“

Seit dem Wegfall der Beschränkungen für Kroaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt im Juli vergangenen Jahres hat sich der neue Gastarbeiteraderlass ins Ausland spürbar verstärkt. Vom „Exodus“ berichten besorgt die heimischen Medien. Dreimal täglich über Wien und München nach Stuttgart, mehrmals die Woche nach Basel oder Bern: Großformatige Plakate buhlen in der Schalterhalle um Reisende und Kunden.

Ob Morgen-, Mittag- oder Abendbusse: Spätestens in Osijek sind die aus den Grenzgemeinden Ilok oder Vukovar durch Slawonien in Richtung der deutschen Arbeitshochburgen rumpelnden Fernbusse fast immer bis zum letzten Platz besetzt. Von seinen Freunden lebe mittlerweile die Mehrheit im Ausland, berichtet Zvonimir: „Fast alle arbeiten in Deutschland, Irland, Norwegen oder den USA. Denn hier gibt es einfach keine Jobs.“

Eine Stadt der Pensionisten. Heiß brütet die Sonne über der fruchtbaren pannonischen Tiefebene. Als Kornkammer Kroatiens gilt Slawonien bis heute. Doch den nur noch 800.000 Bewohnern (Volkszählung 2011) vermag die einstige Vorzeigeregion kaum mehr Brot zu geben. „Wir werden zu einer Stadt der alten Leute“, seufzt in Vukovar der Journalist Milan Paun. „Schon jetzt besteht die Hälfte der Bevölkerung aus Pensionisten. Jede dritte Wohnung steht leer.“ In einem Jahr sei die Zahl der Arbeitslosen in der Stadt um 20 Prozent geschrumpft, ohne dass es mehr Arbeitsplätze gebe: „Die Leute verschwinden einfach.“ In Vukovar seien vor allem Irland und Deutschland Ziel der Auswanderer: „Ganze Familien ziehen weg. Es ist eine demografische Katastrophe.“

Zum zweiten Mal in diesem Jahr macht sich auf dem Busbahnhof von Osijek der hagere Dusan nach Stuttgart auf. „Wenn du etwas Deutsch kannst und arbeiten willst, findest du immer einen Job“, sagt der 48-jährige Familienvater. Bei der Frage, warum er zum Arbeiten in die Fremde gehe, zuckt der braun gebrannte Kraftfahrer mit den Schultern. Ein halbes Jahr sei er nach Bankrott seines vorigen Arbeitgebers ohne Einkünfte gewesen. Von seinen vier Kindern habe keines einen festen Job. „Dass ich gehe, ist für uns alle schwer. Aber was sollen wir tun?“ Nicht der Preis für das Ticket, sondern die Entfernung sei das Problem: Vermutlich werde er erst wieder zu Weihnachten nach Hause kommen: „Sobald ich in Stuttgart eine bezahlbare Unterkunft finden kann, hole ich die Familie nach. Aber Wohnungen in Süddeutschland sind teuer – und kaum zu finden.“

Historisch sei Slawonien immer eine Region gewesen, wo Wellen der Abwanderung jenen der Zuwanderung folgten, berichtet der Demografieprofessor Dražen Živić, Leiter des Ivo-Pilar-Instituts in Vukovar. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei die zu jugoslawischen Zeiten relativ wohlhabende Region jahrzehntelang das Ziel von Immigranten aus Dalmatien, Bosnien und Südserbien gewesen. Nicht nur wegen der verstärkten Nachfrage in Deutschland und Österreich nach Arbeitskräften setzte in den 1970er-Jahren jedoch eine Welle der Emigration ein: „Die Modernisierung der Landwirtschaft setzte auch Arbeitskräfte frei, die von der Industrie nicht absorbiert werden konnten. Der Kroatien-Krieg verstärkte die Emigration ins Ausland. Viele der Vertriebenen – ob Kroaten oder Serben – kehrten nicht mehr zurück.“

Die Kriegsfolgen, missglückte Privatisierungen, der Niedergang der Industrie, eine verfehlte Wirtschaftspolitik, die geringeren Hürden bei der Auswanderung sowie die vereinfachte Kommunikation sind lautŽivić die Gründe für den sich verstärkenden Drang in die Fremde: „Früher war ein Brief oft wochenlang unterwegs. Jetzt genügt ein Knopfdruck am Computer, um zu erfahren, welche Fachleute Mercedes in Sindelfingen gerade benötigt.“

Koffer und Reisetaschen verschwinden hinter der Ladeklappe. Heimisch sei er auch nach einem Jahr in Deutschland noch nicht, gibt Zvonimir offen zu. Frankfurt sei eine „kühle Bankerstadt“, in der sich eine „Menge Mafiosi“ tummelten – „auch aus unserer Gegend“. Für seine Pritsche im Dreibettzimmer habe er 265 Euro im Monat zu zahlen, das Badezimmer teile er mit insgesamt neun Mitbewohnern: „Ich bin in Frankfurt nur, um zu arbeiten und zu schlafen. Ein richtiges Leben habe ich dort nicht.“

Nicht jeder sei für ein Leben als Gastarbeiter geschaffen, sagt Živić: „Ein Drittel derer, die gehen, kommt wieder zurück.“ Der Staat müsste denjenigen, die bleiben wollten, die Chance geben, sich ein minimales Auskommen zu verschaffen – und die Ansiedlung von Investoren in Slawonien stimulieren, fordert der Wissenschaftler. „Doch von Zagreb aus ist ganz Rest-Kroatien Peripherie. Und am wenigsten Einfluss haben die Landstriche, die als Peripherie der Peripherie gelten – die Grenzgebiete im Osten Slawoniens.“

Verlust an Entwicklungspotenzial. Nur wenige Auswanderer melden sich in ihrer Heimat ab. Wie viele in Slawonien die Koffer packen, ist wegen der dürftigen Datenlage selbst von Fachleuten kaum zu erfassen. Spätestens die nächste Volkszählung in fünf Jahren werde den Verlust von weiteren 100.000 dokumentieren, fürchtet Živić: „Aber wir verlieren nicht nur an Bevölkerung, sondern vor allem an Entwicklungspotenzial.“ Mit jedem Jungen, der abwandere, verliere Slawonien an Zukunft – und oft wertvolle Fachkräfte: „Wenn heute ein Investor in Slawonien eine Großfabrik eröffnen würde, hätte er Probleme, ausreichend qualifiziertes Personal zu finden.“

Die letzten Zigaretten werden ausgedrückt, Brüder, Frauen und Eltern heftig geherzt. Ein zurückbleibender Greis drückt mit feuchten Augen seine Tränen weg. Zvonimir umarmt noch einmal seine Eltern, bevor er mit bedrückter Miene in den Bus steigt. Stumm winkt die Mutter dem Bus hinterher. „Was soll man schon machen?“, fragt sein Vater resigniert. „So ist das Leben.“

Wo ist Arbeit?

Seit dem Wegfall der Beschränkungen für Kroaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt hat ein neuer Gastarbeiterstrom eingesetzt.

Vor allem aus Slawonien wandern Arbeitswillige ab.

Die einstige Kornkammer verarmt und bietet keine Jobs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2016)

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