„Wir waren alle überrascht, aber Brexit heißt Brexit“

(c) APA/AFP/JUSTIN TALLIS
  • Drucken

Das Vereinigte Königreich muss seine Handelsbeziehungen neu ordnen, aber der Austritt aus der EU sei auch eine Chance für die Wirtschaft, sagt die britische Staatssekretärin Lucy Neville-Rolfe bei einem Besuch in Wien.

Wien. Die englische Sprache hat kein Wort für „Schockstarre“. Und die neue englische Regierung keine Zeit für Untätigkeit. So sieht das auch Lucy Neville-Rolfe, die mit dem Regierungswechsel im britischen Wirtschafts- und Industrieministerium auf das Level einer Staatssekretärin aufgestiegen ist. „Ich war für den Verbleib in der EU. Aber ich bin Pragmatistin. Jetzt geht es darum, auch über die Möglichkeiten nachzudenken, die der Brexit bietet“, sagte Neville-Rolfe der „Presse“ bei einem Interview in Wien. Etwaige Hoffnungen des „Remain“-Flügels, der Brexit könne noch aufgehalten werden, seien inzwischen zunichte gemacht. „Das gab es am Anfang, wir waren alle überrascht. Sogar die Buchmacher. Aber wir haben rasch eine neue Premierministerin bekommen – und sie hat klargestellt: Brexit heißt Brexit.“

Von Tesco zu Metro

Neville-Rolfe ist auf der Insel vor allem für ihr Markenzeichen bekannt: eine grell gefärbte Haarsträhne. Aber die 63-jährige Politikerin der Konservativen kann mit einem vollwertigen Lebenslauf aus dem Wirtschaftsleben aufwarten: Neville-Rolfe war 16 Jahre lang im Tesco-Konzern tätig, der die größte Supermarktkette auf der Insel betreibt. Von 2006 bis 2013 diente sie Tesco als Executive Director. Nebenbei saß sie in mehreren Aufsichtsräten, auch in jenem des Düsseldorfer Metro-Konzerns (Media Markt, Saturn).

2013 wurde Neville-Rolfe dann von der Queen zum Life Peer im britischen House of Lords ernannt, sie sitzt also auf Lebenszeit im Parlament in London. Seit dem 23. Juni hat sich ihre Welt bereits grundlegend verändert. „Ich stehe seit dem Brexit in Dauerkontakt mit den Unternehmen und versuche, Fragen zu beantworten – aber auch, sie auf die Möglichkeiten hinzuweisen“, so Neville-Rolfe. Das überraschende Ja zum Austritt aus der Europäischen Union sei allerdings auch ein Hinweis darauf, dass sehr viele Menschen nicht am Wohlstand teilhaben, den es heute im Vereinigten Königreich gibt, so die Politikerin. Deswegen sei es wichtig, dass die neue Premierministerin gleich in ihrer ersten Rede ein Signal in Richtung Sozialpolitik gesetzt habe.

Die Verhandlungen über einen Ausstieg aus der Union müssten nicht automatisch die Beziehungen zwischen Europa und dem Vereinigten Königreich ruinieren, so Neville-Rolfe. „Ich glaube schon, dass es eine Chance gibt auf konstruktive Zusammenarbeit. Ich bin in Wien, weil ich anschließend zu einem EU-Gipfel nach Bratislava fahre. Wir haben also weiterhin eine gute Zusammenarbeit mit und in der EU.“ Auch mit österreichischen Investoren und Unternehmen stehe sie in Kontakt, etwa mit dem Ziegelhersteller Wienerberger. „Wir haben einen Mangel an Häusern und Wohnungen.“ Wenn die Regierung dieses Thema jetzt angehe, sei dies natürlich auch für europäische und österreichische Firmen interessant.

Schottland wird bleiben

Wie Europa sich nach dem vollzogenen Brexit gestalten werde, sei noch offen. „Wir sprechen klarerweise mit den Schweizern und den Norwegern über ihre Erfahrungen – und die sind ja nicht so schlecht“, sagt Neville-Rolfe. Dass Großbritannien jetzt eine ganze Reihe von Handelsabkommen anstrebe, sei nur logisch: „Wir müssen unsere Handelsbeziehungen weltweit neu bewerten – nicht nur mit der EU.“ An einen Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich – und sofortigen Wiedereintritt in die EU – glaubt die Baronesse eher nicht. „Es gab erst kürzlich eine Entscheidung in Schottland, im Vereinigten Königreich zu verbleiben.“ (jil)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.